zum Hauptinhalt
Ein Ort, zwei Ansichten. Links Plattenbauten (die zu West-Berlin gehörten), rechts die Kirche (die mal zur DDR gehörte).

© Kai-Uwe Heinrich

25 Jahre Deutsche Einheit (10): Ost-West-Versöhnung? "Hab' ich unterschätzt"

Kaum ein deutscher Ort hat in den vergangenen Jahrzehnten so viel durchlebt wie Staaken, tief im Westen Berlins. Ein Besuch bei Pfarrerin Claudia Kusch.

Als Claudia Kusch 2010 die Dorfkirche Alt-Staaken übernimmt, ist der jungen Pfarrerin schon bewusst, dass es sich bei ihrer ersten eigenen Gemeinde um eine ganz besondere handelt. Sie kennt die Geschichte der westlichen Hälfte des Spandauer Ortsteils Staaken, der von den Wogen des Kalten Kriegs vom Westen in den Osten und schließlich ins wiedervereinigte Berlin gespült worden ist.

Sie kennt die Geschichte ihrer kleinen, schlichten Kirche, die direkt neben der Mauer stand. Auch ihre eigene Biografie – geboren in Leipzig, Kindheit in einem Pfarrhaus in Brandenburg, 1989 nach Lichtenberg gezogen, Abitur in Westend – ist eigentlich eine gute Vorbereitung. Kusch ist selbstbewusst und eloquent, „ich hab’s gerne schnell“, sagt die 37-Jährige. Doch nach ihrem Dienstantritt muss sie feststellen, dass West-Staaken noch nicht bereit für schnelle Schritte ist.

„Mir war nicht klar, wie lange Versöhnung braucht“, sagt Claudia Kusch. „Das habe ich unterschätzt.“

West-Staaken liegt am westlichen Stadtrand. Im Herbst 2015 wirkt die Gegend wie ein friedlicher Vorort, fernab der City und irgendwie von ihr abgenabelt. Der Großteil der kleinen Häuser ist nach der Wende gebaut worden, nicht nach einem Masterplan, sondern scheinbar eher zufällig. Über den Dächern donnern im Minutentakt Flugzeuge, die gerade in Tegel gestartet sind.

Als Staaken nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt wird, sind Flugzeuge der Grund. Britische und sowjetische Besatzer einigen sich auf ein Tauschgeschäft: Am 31. August 1945 treten die Sowjets den Flughafen Gatow an die Royal Air Force ab und bekommen die westliche Hälfte des Spandauer Ortsteils Staaken samt Flugplatz. Fünfeinhalb Jahre lang leben die 5000 West-Staakener in einem Sonderstatus: Offiziell gehören sie zum sowjetischen Interessenbereich, werden aber von Spandau aus verwaltet. Während der Blockade wird auch West-Staaken von der Versorgung abgeschnitten. Die Bewohner dürfen an West-Berliner Wahlen teilnehmen und mit West-Geld West-Zeitungen kaufen. Damit ist im Februar 1951 Schluss: Die DDR vollzieht den Gebietstausch überraschend und mit allen Konsequenzen, sie tauscht die Lehrer aus und richtet Kontrollpunkte ein.

Doch alle Proteste nutzen nichts: Der britische Stadtkommandant teilt mit, die Abmachung mit den Sowjets sei nicht rückgängig zu machen. Die meisten West-Staakener wollen nicht zu DDR-Bürgern werden, sie lassen ihre Häuser und Wohnungen zurück und ziehen nach West-Berlin. Die DDR füllt den ausgebluteten Ortsteil mit linientreuen Bürgern, darunter viele Polizisten, die am Grenzübergang Staaken arbeiten. 1961 wächst neben der Kirche die Mauer in die Höhe.

Heute deutet neben der Kirche eine steinerne Säule mit der Aufschrift „Zum Andenken an die Befreiung am 25. April 1945 durch die Rote Armee“ darauf hin, dass West-Staaken fast vier Jahrzehnte lang vom Westen Berlins abgetrennt war. Am 3. Oktober 1990 feiern 30 000 Menschen auf dem Grenzstreifen die Wiedervereinigung. West-Staaken wird wieder Berlin zugeschlagen, aber eine Erfolgsgeschichte ist das erst einmal nicht. „Alles, was in der Wiedervereinigung falsch gelaufen ist, ist auch hier falsch gemacht worden“, sagt Kusch. Viele der 1951 vor der DDR geflüchteten West-Staakener wollen in ihre alte Heimat zurückkehren – und melden Rückübertragungsansprüche auf ihre Häuser und Grundstücke an. „Ich würde nicht sagen, dass das der weiseste Beschluss der Wiedervereinigung war. Das förderte nicht unbedingt die Liebe zu dieser Bundesrepublik“, sagt Kusch. „Zumal hier ja sowieso viele staatsnahe Leute gearbeitet haben. Die haben davon gelebt, dass es die DDR gab.“ Die Bundesrepublik führt in Windeseile den West-Berliner Steuersatz in West-Staaken ein, die Gehälter und Renten bleiben auf Ost-Niveau. Der Verantwortliche für die Rückübertragungsansprüche erhält Morddrohungen, es gibt Selbstmorde von Leuten „die nicht ertragen, dass sie das Haus abgeben müssen, in dem sie seit 40 Jahren wohnen“, sagt Pfarrerin Kusch.

Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen sagt 1993: „Berlin ist die Werkstatt der deutschen Einheit – und West-Staaken ist die Werkbank.“ Spandaus Bürgermeister Werner Salomon sagt, in Staaken sehe man „wie durch ein Brennglas die Probleme der deutschen Einheit“. Kuschs Vorgänger, Pfarrer Norbert Rauer, sagt über die Wehen der Wiedervereinigung: „In Alt-Staaken hat man das alles auf ein paar Quadratkilometern erlebt und erlitten. In der mittleren Generation war man sich völlig fremd, man hatte keine gemeinsame Geschichte.“ Claudia Kusch sagt: „Die haben alle nicht miteinander geredet. Weil sie alle nicht so richtig wussten, wie sie es machen sollen.“

Auch die Kirchengemeinden werden zusammengelegt – und geraten sofort über die unklaren Besitzverhältnisse eines lukrativen Grundstücks in erbitterten Streit. Als der Alt-Staakener Dorfkirche ein Pfarrer fehlt, schickt der zuständige Kirchenkreis Spandau ein Jahr lang keine Vertretung. Erst viel später wächst die Gemeinde tatsächlich zusammen, mit professioneller Unterstützung. „Im Grunde ist das wie eine Eheberatung“, sagt Kusch. „Nur dass man sich in einer Ehe scheiden lassen kann, als fusionierte Gemeinde geht das nicht.“

Von den Wirren und Widerständen ist heute wenig zu spüren. Die günstigen Grundstückspreise haben vor allem Familien nach West-Staaken gelockt, das hat die alten Kategorien verwischt. Jüngere Menschen orientieren sich längst in Richtung Spandau und fühlen sich als Berliner. Die Alt-Staakener schauen eher in Richtung Havelland und fahren zum Einkaufen nach Dallgow. Reiche Menschen leben nicht in West-Staaken, „die Familien haben oft zwei bis drei Kinder oder mehr, alle arbeiten wahnsinnig viel“, sagt Kusch.

Kaum ein deutscher Ort hat in den vergangenen Jahrzehnten mehr durchlebt. Der unscheinbare Ortsteil mit seiner Kirche ist ein Beispiel dafür, welche Hindernisse bei der Wiedervereinigung überwunden werden mussten und welche Narben immer noch nicht vollständig verheilt sind. „Für die Kirchengemeinde spielt das Ost-West-Ding keine Rolle mehr“, sagt Kusch.„Wir sind fernab von allem, was in Berlin-Mitte passiert. Im Grunde genommen haben wir aber alles schon durch, was bei denen noch ansteht.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false