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Teppich der Träume: Das Kunstwerk „Visions in Motion“ vor dem Brandenburger Tor mit 30.000 Botschaften auf kleinen Bändern.

© Thilo Rückeis

30 Jahre Mauerfall: Heute haben wir die Freiheit – was fangen wir damit an?

An diesem Montag beginnt die Festwoche zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Der Erfahrungsschatz jener Tage muss heute mehr denn je gehoben werden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Robert Ide

Zum Beispiel diese kleine Ausstellung in Prenzlauer Berg: Kinder haben Revolutionäre aus ihrem Kiez gefragt, wie sie damals einen friedlichen Umbruch geschafft haben – mit Mut im Herzen und Kerzen in der Hand. Ein Kind fragt im Videofilm: „Was ist ein Kerzenmeer?“

Zum Beispiel dieses große Meer an Zetteln am Brandenburger Tor, auf denen Menschen aus aller Welt hinterlassen haben, was sie sich wünschen für ihr Leben und für eine Welt. Eine Mutter möchte ihr Kind wiedersehen – auf ihrem handgeschriebenen Zettel steht: „Wo bist Du?“

Zum Beispiel der Schülerwettbewerb des Tagesspiegels, für den Mädchen und Jungen ihre Eltern und Großeltern ausgefragt haben, wie sie die Zeitenwende erlebt haben. Fünftklässler Franz aus Pankow schreibt: „Wäre der Mauerfall nicht gewesen, gäbe es mich gar nicht. Meine Mutter kommt nämlich aus der ehemaligen DDR.“

Welchen Weg hätte unser Leben genommen, wäre die Welt nicht über Nacht eine andere geworden und aus zwei Berlins eine Stadt von Welt? Diese Frage ist gerade ganz gegenwärtig. Und sie hat zum Glück Zukunft.

An diesem Montag beginnt in Berlin die Festwoche zur Erinnerung an den Mauerfall vor 30 Jahren. Sie startet mit einer Theaterperformance auf dem Alexanderplatz, auf dem sich einst Mut und Wut versammelte bei der größten Demonstration in der DDR. Und sie endet am Sonnabend, dem 9. November, mit einer Freiheitsparty für Millionen, passenderweise auf der Straße des 17. Juni, der an den niedergeschlagenen DDR-Volksaufstand erinnert.

Alles riskiert – für ein offeneres Leben

Das sollte Erinnerung schon leisten: an jene Menschen denken, die wagemutig ins Offene gegangen sind und ihren eigenen Lebensweg riskiert haben, damit für alle ein offeneres Leben möglich wird.

[30 Jahre Mauerfall: Der Tagesspiegel feiert das Jubiläum am 9. November mit einer umfangreichen Sonderausgabe. Bestellen Sie die Zeitung hier kostenlos.]

Natürlich ist der Pathos der Jahrestage ein wenig abgestanden. Aber gerade die politische Unzufriedenheit in Ostdeutschland zeigt, dass viele Geschichten noch nicht erzählt oder genug gehört worden sind; Geschichten auch des Scheiterns nach dem Wahnsinnsrausch des Mauerfalls; Erzählungen von der Auszehrung ganzer Landstriche, die nun mit dumpfem rechten Protest nach Aufmerksamkeit zehren.

Die Menschen gerade im Westen sollten genau zuhören, denn auch die Gewissheiten der alten Bundesrepublik sind untergegangen. Mit der Digitalisierung und Maschinisierung unserer Arbeit und Kommunikation werden alle bisherigen Weltbilder gleichermaßen erschüttert. Nichts bleibt wie es für immer schien.

Ein Schatz an Erfahrung

Aber gemeinsam kann man etwas Neues draus machen. Davon können viele Menschen, deren Leben sich mit der Wende komplett wendete, ganz persönlich berichten. Ein Schatz an Erfahrung für alle.

30 Jahre danach ist genug Zeit vergangen, dass die Geschichten langsam Geschichte werden. Heute erzählt man sich anders, was gestern war, weil genug Zeit im Raum dazwischen liegt. Kinder, die den Betonriss mitten durch die Stadt, durch unser Land und durch viele Familien nur vom Hörensagen (und viel zu selten aus dem Geschichtsunterricht) kennen, fragen unbefangener.

Eine neue Zeit, ein neuer Umgang – als Chance

Ebenso Menschen aus aller Welt, die hier Wurzeln schlagen. Die DDR wird historisiert, die Stasi-Akten-Behörde ins Bundesarchiv überführt. Und im politisch labilen Osten sind selbst Bündnisse von Linken und der CDU nicht mehr undenkbar. Es ist eine neue Zeit, mit der alten Zeit und ihren Wunden umzugehen. Eine neue Chance für alle, Gemeinsames zu entdecken.

[Robert Ide ist geschäftsführender Redakteur des Tagesspiegels. Er ist in Berlin-Pankow aufgewachsen und erlebte den Mauerfall mit 14 Jahren. Er ist Autor des Buches „Geteilte Träume. Meine Eltern, die Wende und ich“. ]

Diktatur kann heute in multimedialen Apps, durch virtuelle Stadtrundfahrten oder mit animierten Zeitzeugen nacherlebt werden. Die spielerische Annäherung – auch im Theater, im Kino oder bei Straßenperformances – muss nicht weniger ernsthaft sein. Wenn sie die Menschen und ihre Lebenswege ernst nimmt. Die neue Art des Erzählens gibt dem Erinnern eine Zukunft. Als Teil einer Gegenwart, die selbst im Umbruch ist.

Welches Leben möchten wir leben? Heute haben wir die Freiheit, ohne Grenzen darüber nachzudenken. Und uns befreiter zu erinnern: Wäre der Mauerfall nicht gewesen, gäbe es uns gar nicht.

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