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Echter Berliner. Die Kinder und Enkel der türkischen Berliner, die einst als Gastarbeiter in die Stadt kamen, fühlen sich hier längst zu Hause – und bekennen sich dennoch selbstbewusst zu ihren familiären Wurzeln.

© dpa

50 Jahre Anwerbeabkommen: Türkischstämmige Berliner nehmen Diskriminierung nicht mehr hin

Auch 50 Jahre nach dem Anwerbeabkommen werden türkischstämmige Berliner benachteiligt. Doch immer weniger nehmen Diskriminierungen im Alltag klaglos hin.

Von Sandra Dassler

Es war ein Versehen, dass der Besitzer eines Gewerbegrundstücks in Moabit das Fax nicht an seinen Partner, sondern an ein von türkischstämmigen Berlinern geleitetes Taxiunternehmen schickte, das die Immobilie mieten wollte. „Da war die Rede von osmanischen Besatzern, die man im Gegensatz zu den Alliierten leider nicht mehr los würde – wir dachten, wir lesen nicht richtig“, erzählt ein Geschäftsführer der Taxifirma: „Man vermutet ja schon hin und wieder ethnische Ressentiments, aber dass sie so offen dargelegt werden, ist selten.“

In dem Fax stand auch, dass der Grundstücksbesitzer, ein Handwerksmeister, ein großes Maklerbüro mit der Suche nach einem Mieter beauftragt habe – und zwar ausdrücklich mit der Maßgabe, dass es sich dabei um „keine Osmanen und Co“ handeln dürfe. Er sei nicht bereit, in dieser Hinsicht Zugeständnisse zu machen, hieß es in dem Schreiben, das dem Tagesspiegel vorliegt, „egal, ob das rassistisch oder sonst etwa angebliches ausländerfeindliches Verhalten ist“.

Der Fall, der auch von türkischen Zeitungen aufgegriffen wurde, erregt auch deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil er genau in die Wochen der Feiern anlässlich des am 30. Oktober 1961 unterzeichneten Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik und der Türkei fällt. Auch wenn der türkenfeindliche Handwerksmeister, der auf Nachfrage des Tagesspiegels sagte, er stehe zu dem Schreiben, keinesfalls repräsentativ ist, erleben türkischstämmige Berliner selbst 50 Jahre nach Beginn der Einwanderung immer noch Diskriminierungen.

Erst vor zwei Jahren stellte der Berliner Stadtsoziologe Hartmut Häußermann eine von ihm betreute empirische Studie der Sozialwissenschaftlerin Emsal Kilic an der Humboldt-Universität vor. Darin hatten sich eine deutsche und eine türkische Frau mit nahezu gleichen ökonomischen Voraussetzungen um freie Wohnungen in Wilmersdorf und Neukölln beworben. Der türkischen Frau wurde keine einzige Wohnung in Wilmersdorf angeboten, der deutschen Frau ein halbes Dutzend.

„Das sind keine Einzelfälle“ behauptet Grünen-Politiker Özcan Mutlu, an den sich türkischstämmige Berliner oft mit ähnlichen Erfahrungen und Beschwerden richten. „Immerhin tun sie es inzwischen“, sagt Serdar Yazar, Sprecher des Türkischen Bunds in Berlin-Brandenburg. Er kennt den Fall von Moabit, aber auch andere Beispiele für alltägliche Diskriminierungen durch Behörden.

Da habe sich in den vergangenen Jahren nicht viel verbessert, meint Yazar, aber immer mehr türkischstämmige Berliner begehrten inzwischen dagegen auf: „Die haben begriffen, dass sie nicht nur Gäste sind, sondern die gleichen Rechte haben wie alle Berliner. In Sachen wirklicher Gleichberechtigung erleben wir erst jetzt, 50 Jahre nach dem Anwerbeabkommen, die Stunde null.“

Das liegt auch daran, dass in Deutschland seit 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), besser bekannt als Antidiskriminierungsgesetz, in Kraft ist. Danach sind Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.

Lesen Sie auf Seite 2, in welchen Bereichen türkischstämmige Berliner subtiler diskriminiert werden

„Diskriminierung findet in allen Bereichen statt“, sagt Nuran Yigit, Projektleiterin beim Antidiskriminierungsnetzwerk des TBB. Seit 2003 wurden hier Hunderte Menschen beraten. „Da geht es um die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, weil man Türke ist. Oder die Wohnung, die Praktikums- oder Ausbildungsstelle nicht zu bekommen“, erzählt Yigit. Seltener geht es um diskriminierendes Verhalten in öffentlichen Verkehrsmitteln, Schulen, Kitas oder Diskotheken.

Yigit und ihre Kollegen beraten die Opfer, versuchen zu vermitteln. Wie im Fall einer türkischen Rentnerin, der ein Seniorenheim die Wohnung mit der Begründung verweigerte, sie spreche kein Deutsch, man könne den Vertrag nicht mit ihr aushandeln. „Dabei hätten die perfekt Deutsch sprechenden Kinder alle Fragen geklärt“, sagt Nuran Yigit. In solchen Fällen helfe oft ein Beschwerdebrief an die Vermieter mit dem Hinweis auf das Antidiskriminierungsgesetz und entsprechende Entschädigungsansprüche.

In der Wirtschaft erfolgt Diskriminierung subtiler und ist schwerer nachweisbar, sagt Bilinç Isparta, Sprecher der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung Berlin-Brandenburg: „Wie wollen Sie belegen, dass beispielsweise die Betriebssprüfung bei türkischen Firmen besonders intensiv durchgeführt oder dass bestimmte Marktflächen nicht an türkische Unternehmer vermietet werden?“

Schlimmer sei aber, wenn Einwanderer aus solchen Erfahrungen eine Rechtfertigung für eigene Untätigkeit ableiteten – nach dem Motto: „Ich kann ja nichts machen, weil ich Türke bin.“ Auch deshalb sei es so wichtig, dass sie sich für ihre Rechte stark machten. Denn wer Rechte fordere, müsse auch Pflichten erfüllen.

Bilinc Isparta, der Rechtsanwalt ist, ärgert sich manchmal über gedankenlosen Rassismus, wenn etwa Zeitungen schreiben, etwas sei „getürkt“ worden. Manches erheitert ihn auch: Unlängst vertrat er einen Mandanten beim Amtsgericht Tiergarten. Als er zehn Minuten vor Prozessbeginn den Saal betrat, um ein Vorgespräch mit dem Richter zu führen, fuhr dieser ihn an: „Kommen Sie mit Ihrem Anwalt wieder!“ Und zeigte sich erstaunt, als Isparta sagte: „Ich bin der Anwalt.“

In Berlin gebe es inzwischen mehr als 150 türkischstämmige Rechtsanwälte, sagt Isparta. Es gibt türkische Ärzte, Professoren, Richter, Schauspieler, Journalisten, Politiker. Für sie und viele Kinder und Enkel türkischer Einwanderer ist Berlin Heimat. Sie sind, wie Özcan Mutlu sagt, „eine Generation mit hybriden Identitäten, die sich nicht auf ihre Herkunft reduzieren und als Sündenbock oder Opfer abstempeln lässt.“ Und, ehrlich gesagt, findet es Bilinc Isparta, der hier zur Schule gegangen, sein Abitur gemacht und Jura studiert hat, inzwischen eher komisch, wenn jemand ihm wohlwollend sagt: „Sie sprechen aber gut Deutsch!“

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