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Hauptkommissarin Gina Graichen: Sie leitet das Kommissariat LKA 125 in Berlin.

© Miguel Villagran/dpa

520 Fälle in Berlin: Kindesmisshandlung kommt in den besten Familien vor

Gina Graichen leitet das Kommissariat LKA 125. Das kümmert sich ausschließlich um vernachlässigte Kinder und Misshandlungsfälle. Die Beamtin wünscht sich mehr Wachsamkeit in der Gesellschaft.

Jessica war 17, als sie das Landeskriminalamt in Tiergarten betrat. „Ich bin heute hier, um meine Mutter anzuzeigen“, liest Gina Graichen aus dem Protokoll. Seit Jessicas siebtem Lebensjahr hatte ihre Mutter sie erniedrigt, getreten, tageweise im Zimmer eingesperrt. „Misshandlung von Schutzbefohlenen“ ist das. Damit beschäftigt sich Graichen in ihrem Berufsalltag, sie leitet das LKA 125. Dieses Kommissariat kümmert sich – bundesweit einzigartig – nur um die Misshandlung von Kindern und anderen hilflosen Personen.

In seinen schlimmsten Träumen könne man sich kaum vorstellen, was manche Leute mit Kindern anstellen, berichtete Graichen am Mittwochabend bei einem öffentlichen Vortrag für den „Verband Anwalt des Kindes“ in Friedenau. Graichen spricht von ausgesetzten Säuglingen in Sporttaschen, und von Kindern, die auf Auktionsseiten zum Verkauf angeboten werden: „Wer will Kinderwagen mit Inhalt?“ Unter der Kategorie „Zubehör“. Die bundesweit anerkannte Expertin will aufklären, sensibilisieren, damit sich mehr Ärzte, Nachbarn, Verwandte bei Verdacht an die Polizei wenden.

Vernachlässigung und Misshandlung seien ihre Hauptthemen. Man müsse allerdings unterscheiden zwischen Quälen und rohem Misshandeln. Einige der Zuhörer wollen das nicht so genau wissen, halten sich die Ohren zu, als Graichen ins Detail geht. Sie spricht von Kopfnüssen, eingerissenen Ohrläppchen, acht Wochen alten Kindern, bei denen „frühere Brüche“ festgestellt werden. „Und viele Täter beißen“, sagt sie. „Die Täter“, das sind vor allem Eltern, deren Lebenspartner, aber auch Tagesmütter und Kita-Personal. Misshandlung komme in den besten Familien vor. „Lehrer und Anwälte werden nur seltener angezeigt.“ Denen traue man das weniger zu, sagt die Beamtin. Je intelligenter die Täter, desto subtiler die Tat. Dann würden Kinder eher gequält, psychisch, zum Beispiel mit Liebesentzug. „Oder Kuscheltiere werden angezündet, Kaninchen fliegen aus dem Fenster.“ Nur schwer ließen sich da Beweise sammeln.

Graichen ermuntert zur Anzeige. 2013 bearbeitete ihr Kommissariat 520 Misshandlungsfälle. Zehn Jahre vorher waren es nur 384. „Nicht die Fälle haben sich gemehrt, nur die Anzeigen.“ Auf einen angezeigten Fall kämen wohl 50 unentdeckte. Die Beamtin appelliert: Lieber zu oft melden. Die Kinder bräuchten Erwachsene, die sich ihrer annähmen. „Dann hätte Jessica sicher auch schon im Alter von acht Jahren ausgesagt.“

Milena Menzemer

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