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Berlin: 75 Schulkinder fehlen – Ämter haben keine Spur

Schulverwaltung fordert Bezirke auf, alle Fälle aufzuklären. In diesem Schuljahr wurden 53 Kinder von der Polizei zur Schule gebracht

Von Sandra Dassler

Von 75 Berliner Kindern und Jugendlichen, die eigentlich die Schule besuchen müssten, fehlt den Bezirken momentan jede Spur. Das ergab eine Rundfrage der Senatsverwaltung für Bildung in den bezirklichen Schulämtern. In den meisten Fällen wird das eher harmlose Gründe haben: Sie könnten beispielsweise bei ihren Großeltern in der Türkei sein. Oder ihre Eltern haben einfach nur vergessen, sie beim Umzug in einen anderen Bezirk ordnungsgemäß von der Schule abzumelden. Sie könnten aber auch unter grober Vernachlässigung leiden wie die elfjährige Julia, die – wie berichtet – vor drei Wochen von der Polizei in einer verwahrlosten Wohnung in Reinickendorf aufgefunden wurde. Bildungssenator Klaus Böger (SPD) hat deshalb die Bezirke aufgefordert, alle Fälle, in denen Kinder auch nach Bußgeld und Zwangsmaßnahmen immer noch nicht zur Schule gehen, unverzüglich aufzuklären.

Im laufenden Schuljahr 2005/06 sind bislang 743 Mädchen und Jungen nicht zum Unterricht erschienen. Das betrifft bereits eingeschulte Kinder, aber auch Kinder, die nicht eingeschult wurden, obwohl sie von den Einwohnermeldeämtern als schulpflichtig erfasst wurden. In 320 Fällen wurden Bußgeldverfahren gegen die Erziehungsberechtigten eingeleitet. Das geschieht in der Regel erst dann, wenn alle anderen Möglichkeiten scheitern, die Eltern durch persönliche Gespräche, Anrufe oder Briefe zu erreichen. In 52 Fällen wurde das Bußgeld verhängt.

Den Eltern von 284 Schulschwänzern drohten die zuständigen Behörden an, die Kinder mit der Polizei zur Schule zu bringen. Bei den meisten Eltern reichte die Drohung, in 53 Fällen mussten die Behörden sie wahr machen: Einige Schüler wurden zwangsweise zum Unterricht gebracht. In anderen Fällen prüften Schulbehörden beziehungsweise Jugendämter, wo sich die Kinder aufhielten – auch indem sie sich mit der Polizei Zugang zu den elterlichen Wohnungen verschafften.

„Wir vermuten, dass vor allem Versäumnisse der Meldepflicht der Grund dafür sind, dass wir bei 75 Schülern trotz aller Bemühungen und Zwangsmaßnahmen nicht wissen, wo sie sich aufhalten“, sagte Bögers Sprecher Kenneth Frisse. Aber bei allen Schulversäumnissen müsse gelten: hinsehen und handeln.

Gerade der Fall Julia in Reinickendorf zeige, dass die notwendige Sensibilität für die Problematik noch nicht immer bei allen vorhanden sei. Wie berichtet, hatte die Schulleiterin der Elfjährigen bereits im März dieses Jahres bei der Mutter nachgefragt, warum das Mädchen nicht zum Unterricht erscheine. Als sich nichts änderte, ging eine Schulversäumnisanzeige an die bezirkliche Koordinierungsstelle gegen Schulverweigerung. Zum Schulbesuch führte das nicht. Erst im August beantragte der zuständige Sozialpädagoge die Zuführung durch die Polizei.

Für Kenneth Frisse ist dies das letzte Mittel. Zunächst sollten alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um sich mit den Eltern zu einigen. Generell gelte aber: Kindeswohl geht vor Elternrecht – auch was die im Grundgesetz garantierte Unverletzlichkeit des Wohnraums anbelange. Die rechtliche Handhabe reiche aus. Sie müsse nur konsequent umgesetzt werden. Eine Änderung des Berliner Schulgesetzes sei nicht notwendig, meint Kenneth Frisse und spielt damit auf die Pläne im Nachbarland an.

In Brandenburg soll das Schulgesetz geändert werden, nachdem der sechsjährige Dennis zweieinhalb Jahre der Schule fernblieb, ohne dass jemand ernsthaft nach seinem Verbleib forschte. Die Polizei fand den Jungen schließlich im Juni 2004 tot in einer Tiefkühltruhe der elterlichen Wohnung in Cottbus.

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