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75 Visionen für Berlin - Folge 57: Berliner Start-ups treiben die Innovation voran

Junge Digitalunternehmen sind kein „hippes Hirngespinst aus Berlin“, sondern eine Stütze der deutschen Wirtschaft. Ein Gastbeitrag.

In Berlin gibt es zwar weder das Frankfurter Bankenviertel noch eine Automobillandschaft wie rund um Stuttgart. Dafür gibt es hier mehr als 4000 Start-ups, finanziert mit mehr als drei Milliarden Euro Wagniskapital im Jahr 2020. Die Ursprünge gehen auf den Boom am Neuen Markt Anfang der 2000er Jahre zurück. 

[Unser Gastautor Sebastian Herzog leitete den vielfach ausgezeichneten Lufthansa Innovation Hub in Berlin. Als Partner bei Hy, Gründer eines E-Commerce Start-ups und eines Krypto-Indexes kennt er die Kombination der Welten „Corporate“ und „Start-up“.]

Diese Aufbruchszeit ist eng mit den drei Samwer-Brüdern verbunden. Zusammen mit Branchengrößen wie Lukasz Gadowski und Christian Vollmann investierten Alexander, Marc und Oliver Samwer in StudiVZ und nutzten das beim Exit in 2006 freigewordene Kapital, um Investmentvehikel, wie den European Founders Fund, mit Kapital auszustatten. 

Start-up-Hochburg Berlin. Längst gehören junge Unternehmen zu den wichtigsten Arbeitgebern der Hauptstadt.
Start-up-Hochburg Berlin. Längst gehören junge Unternehmen zu den wichtigsten Arbeitgebern der Hauptstadt.

© mauritius images / Alamy / rclas

Das Berliner, das deutsche Start-up-Ökosystem war geboren. Die Samwers erkannten Trends und kopierten sie. Getreu dem Motto „Nicht die Idee, einzig die Umsetzung zählt“. 

Treffend zusammengefasst hat es Comedian Harry G in seiner rund zweiminütigen Parodie „Start-Up Gschaftler“ aus dem Jahr 2015 mit dem Satz „Ich gründe so etwas wie Zalando, nur für Zierfische“. 

Bis heute haftet Berlin der Makel der Copycats an. Berlin kann nichts außer E-Commerce ist zu hören. Zu Unrecht, wie die folgenden Beispiele zeigen. 

Berliner Start-ups stehen für Innovation

Jahrelang drehte sich die öffentliche Diskussion im Kontext von Mobilität in Berlin ausschließlich um den Berliner Flughafen. Jahrelang wurden Witze gemacht. 2018 musste Lufthansa öffentlich zurückrudern, als der damalige Vorstand Thorsten Dirks einen Abriss und Neubau des Flughafens ins Spiel brachte. 

Das Absurde: Der Artikel in der FAZ hätte auch im Postillon erscheinen können. Keiner wusste mehr, was Satire und was traurige Realität ist. Im Schatten dieser Peinlichkeiten zeigten andere Menschen, wie man Mobilität neu denkt. 

Zwei Jahre nach Baubeginn des Berliner Flughafens entwickelten Johannes Reck und Tao Tao in ihrer Studenten-WG eine Plattform, um die besten Reiseaktivitäten der ganzen Welt zu versammeln. Aus dieser kühnen Idee wurde die Firma GetYourGuide

Zehn Jahre später hatte der BER noch nicht eröffnet, aber Johannes und Tao beschäftigen mehrere Hundert Mitarbeiter und führen ein Unternehmen mit Büros unter anderem in Berlin, London und Miami und haben einen Unternehmenswert von deutlich mehr als einer Milliarde Euro geschaffen. 

Gastautor Sebastian Herzog
Gastautor Sebastian Herzog

© privat

Aber Johannes und Tao sind nicht die einzigen erfolgreichen Gründer im Mobilitätskontext in Berlin. Zu den mehr als 50 Berliner Start-ups im Bereich Mobilität zählen Unternehmen wie der Elektroscooter Betreiber Tier, Carsharing-Anbieter wie Miles, das aufs autonome Taxifahren spezialisierte Vay, der Technologie-Anbieter door2door oder das von Lufthansa und Porsche betriebene Miles & More der Mobilität, Rydes. 

Berlin muss hier in Zukunft viel konsequenter Vollgas geben. Die BVG-Kampagne „weil wir Dich lieben“ drückt emotional bereits aus, worum es geht: Voller Fokus auf den Bürger. Barrierefrei, nahtlos, über alle Verkehrsträger hinweg. Berlin hat das Potenzial, einen weltweit führenden Mikrokosmos vernetzter Mobilität anzubieten. 

Johannes Reck ist einer der Gründer des Start-ups Getyourguide, das Reiseerlebnisse anbietet.
Johannes Reck ist einer der Gründer des Start-ups Getyourguide, das Reiseerlebnisse anbietet.

© Mike Wolff

Dazu müssen alle Beteiligten miteinander und nicht gegeneinander agieren und den Bürger ins Zentrum all ihrer Überlegungen stellen. Es ist peinlich, wenn bei der Bundestagswahl 2021 in Berlin ein Wahlzettelchaos entsteht, während wir längst die Technologie für sichere, digitale Wahlen haben. 

Die Verwaltung muss schnell digitalisiert werden

Länder wie Estland machen uns vor, wie moderne Wahlen funktionieren und ein digitaler, schlanker und handlungsfähiger Staat aussehen kann. In dem baltischen Nachbarland werden nach Angaben der Regierung 99 Prozent aller Behördengänge digital angeboten. Das Erfolgsgeheimnis: die estnische Bürgerkarte, die Ausweis, Führerschein, Versichertenkarte, Bibliotheksausweis und so weiter miteinander vereint. 

Im Jahr 2019 wurden 98 Prozent aller neuen Unternehmen in Estland digital registriert und angemeldet - mit einem durchschnittlichen Zeitaufwand von 18 Minuten. In Deutschland dauert das heute noch rund acht Tage. 

Kein Wunder, dass Estland im GovTech Maturity Index, einer Benchmark zum Messen der digitalen Entwicklung von nationalen Regierungen, regelmäßig Spitzenpositionen einnimmt.

Aber auch hier gibt es Hoffnung. Wieder sitzen die Hoffnungsträger direkt in Berlin. Lars Zimmermann ist Initiator des GovTech-Gipfel in Deutschland, Vorstand des weltweit ersten GovTech Campus und hat mit Public die Wagniskapitalfirma für GovTech in Deutschland aufgebaut. 

Man darf wohl davon ausgehen, dass er durch seine eigene politische Laufbahn innerhalb der CDU genügend weitreichende Kontakte hat, um das politische Deutschland mit seinen Ideen eines digitalisierten Staatswesens zu begeistern. 

Ebenfalls in Berlin lebt und wirkt Manuel Kilian, Gründer und CEO von GovMind, das Behörden hilft, innovative Start-up-Lösungen zu identifizieren, um damit die eigenen Aufgaben besser, schneller und kundenfreundlicher umzusetzen. „Procurement for Good“ titelte das Handelsblatt in seiner Geschichte über Manuel Kilian. Der „Einkauf zum Wohle des Guten“.

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Seit 2019 arbeiten in Berlin zahlreiche Start-ups am Jahrhundertthema Klimawandel, allen voran Plan A, Planetly oder Climatiq.io Da ist es nur konsequent, dass vor zwei Wochen in Berlin Europas größter Climate-Tech-Fund ins Leben gerufen wurde. 350 Millionen Euro stehen für Start-ups zur Verfügung, die mit ihrer Arbeit jährlich Treibhausgasemissionen um mindestens 100 Megatonnen CO2-Äquivalent reduzieren. 

Bereits 130 Blockchain-Start-ups in Berlin

Das Berliner Start-up-Ökosystem scheut auch keine sogenannten DeepTech-Themen, also Geschäftsmodelle im Umfeld sehr komplexer Technologien, allen voran Blockchain-Anwendungen. 

Der Berliner Senat fördert den Verein BerChain, um die Bundeshauptstadt zur Krypto-Metropole aufzubauen - aktuell gibt es hier bereits mehr als 130 Blockchain-Start-ups. Auch regulierte Branchen, wie das Banken- und Versicherungswesen, werden von N26 und Finleap erfolgreich umgekrempelt. 

Die Berliner Start-ups Delivery Hero, Zalando und Hello Fresh sind bei internationalen Investoren besonders beliebt.
Die Berliner Start-ups Delivery Hero, Zalando und Hello Fresh sind bei internationalen Investoren besonders beliebt.

© Axel Springer Consulting Group

In der öffentlichen Wahrnehmung dürfen Start-ups daher nicht mehr als „hippes Hirngespinst“ aus Berlin angesehen werden, sondern als elementarer Bestandteil der deutschen Wirtschaft und vielleicht größter Treiber der Zukunftsfähigkeit unseres Landes.

Bereits heute sind in Deutschland Hunderttausende Menschen in Start-ups beschäftigt. Inzwischen haben es Zalando, Delivery Hero und HelloFresh in den Dax geschafft - und das war erst der Anfang. 

Und ja, es ist schön, wenn auch Hamburg, München und das Rheinland ihre eigenen Start-up-Ökosysteme entwickeln. Das tut unserer Start-up-Landschaft gut. 

Doch nur Berlin hat die Chance, den ganz großen Wurf zu landen, einen von globaler Bedeutung. Also: Schluss mit „Arm, aber sexy“! Es ist falsch, den interessanten, aber vermeintlich chancenlosen David zu spielen. Berlin hat das Zeug zum Goliath. Berlin, Du bist so wunderbar!

Sebastian Herzog

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