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Berlin: 99 Zeilen Schwerk: Beiläufige Begegnung mit einem Porzellan-Pirol aus der Kriegs-Kindheit

Auf dem Weg zur Moabiter Markthalle entdeckte ich beiläufig im Fenster eines Trödlers einen kleinen, dottergelben Pirol. Er ist aus Porzellan wie viele andere bunte Figürchen um ihn herum.

Auf dem Weg zur Moabiter Markthalle entdeckte ich beiläufig im Fenster eines Trödlers einen kleinen, dottergelben Pirol. Er ist aus Porzellan wie viele andere bunte Figürchen um ihn herum. Sie sind kleinkindsfingerklein wie unter anderem die Spreewälder Amme, oder es sind daumenkuppengroße tönerne Gesichter wie jene der Witwe Bolte. Hinzu kommen grüngläserne Stadtwappen im Briefmarkenformat. Der Pirol hat es mir besonders angetan; denn so einen hatte ich als Kind und trug ihn stolz wie einen Orden. Der Pirol war mir - ich erinnere mich genau - seiner dottergelben Farbe wegen so lieb und auch, weil Pirol ein so rundweiches Wort ist. Übrigens habe ich noch nie einen leibhaftigen Pirol gesehen, wohl aber sein zauberhaftes Flöten gehört - als gebe sich von weither Freund Tamino zu erkennen.

Bei all diesen kleinen, bunten Dingen, die nun beim Trödler im Fenster liegen, handelt es sich um Abzeichen. Und zwar um solche von zeitgeschichtlicher Bedeutung; sie waren werbender Bestandteil der Straßen-Sammlungen fürs Winterhilfswerk (WHW) des Deutschen Volkes, also in der NS-Zeit von 1933 an. Der porzellanene Pirol, dem ich beiläufig wiederbegegnete, mag herhalten für eine kurze zeitgeschichtliche Betrachtung, die hinter ihm verborgen ist. Im Lexikon steht diesbezüglich folgendes:

1933 im Rahmen der Nat.-soz. Volkswohlfahrt gegr. Hilfsorganisation (ab 1936 eigene Rechtsfähigkeit). Das W. sammelte Geld, Lebensmittel, Brennstoffe, Kleider zur Verteilung an Arbeitslose und Hilfsbedürftige.

Zu den vielen Vorzügen Berlins gegenüber anderen deutschen Großstädten zählt der für jedermann jederzeitige Zugang zu geschichtlichen Quellen. Eine sprudelt in der Senatsbibliothek im Ernst-Reuter-Haus an der Straße des 17. Juni. Um meine verschwommenen Kenntnisse vom Zusammenhang des Ansteck-Pirols mit dem WHW zu schärfen, wandte ich mich dorthin. Man legte mir alles vor, was das WHW im Allgemeinen, deren Abzeichen im Besonderen betrifft: Gesetze, Verordnungen, Erlasse. Alles stand unter der Oberaufsicht des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda, also Goebbels. Es wurden nicht nur die Eintopfsonntage bis ins Allerkleinste geregelt, sondern auch die Herstellung und Begutachtung der Abzeichen, also auch meines Pirols.

Die Anregungen für neue Abzeichen seien oft von einem der vielen Heimarbeiter gekommen, so steht es im Heft Deutsche Arbeit, Band 5 des Jahres 1941. Mit den Jahren wurden die Abzeichen zu heiß begehrten Sammlerstücken. Frauen sollen Kunstharzblumen als Zierknöpfe genommen, Bernsteinabzeichen in künstlerischer Fassung als Schmuckstücke getragen haben. Ich erinnere mich, dass wir Kinder mit den Abzeichen einen regelrechten Tauschhandel trieben. Wir nannten es in meiner Oberlausitzer Heimat kaupeln; aber meinen Pirol kaupelte ich um keinen Preis, keine noch so hübsche Spreewälder Amme oder einen Schmetterling ein. Bis zum Kriegsjahr 1941 sollen mehr als 800 Millionen Sammelabzeichen hergestellt worden sein.

Nach dem Krieg spielten Kinder mit weniger bunten Dingen, aber sie spielten, wie Kinder ja immer spielen und nicht danach fragen, wer das Spielzeug zu welchem anderen als dem Spielzweck erfunden hat. Der dottergelbe Pirol kam mir - eine Kleinigkeit ja nur - abhanden. Nichts aber kann wirklich verlorengehen, am allerwenigsten eine schöne Kindheitserinnerung. Und wenn der ältere Mann jetzt beiläufig im Fenster eines Moabiter Trödlers einen dottergelben Pirol entdeckt, der dort mit anderen Abzeichen leicht verstaubt, so genügt ein kleines gedankliches Pusten, und schon glänzt der Pirol wie ehedem. Beiläufige Wiederbegegnung? Ja, aber keineswegs zufällig.

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