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Berlin: 99 Zeilen Schwerk: Wo fünf Menschen in Stube und Küche Beispiele für soziale Stärke gaben

Ich habe mich lesend in zwei Erzählte Leben vertieft, jeweils 29 Seiten, die es freilich in sich haben. Beide stammen von Frauen, die in Moabit geboren wurden und ihr Leben lang blieben.

Ich habe mich lesend in zwei Erzählte Leben vertieft, jeweils 29 Seiten, die es freilich in sich haben. Beide stammen von Frauen, die in Moabit geboren wurden und ihr Leben lang blieben. Die eine wurde 1902 in einem Haus mit insgesamt 98 kinderreichen Mietern und pro Etage einer Podesttoilette geboren, die andere 1910 in einem gleichen Haus, das aber immerhin Innentoiletten hatte. Es könnten ebensogut Erzählungen aus anderen Arbeiterbezirken sein. Beide Frauen, die 1983 und 1984 aus Kindheit und Jugend erzählten, kannten einander nicht. Die Hefte (Nishen Verlag) sind vergriffen. Beide Frauen entstammten fünfköpfigen Familien: Eltern und drei Kindern. Sie lebten in Stube und Küche in Hinterhäusern. Die Stube freilich war mit den teils doppelt belegten Betten winters nicht einmal beheizt worden - man musste sehr sparen. Die schmale, kleine Küche war der Lebensraum - übrigens nur mit Petroleum, allenfalls Gas beleuchtet; erst 1926 bekamen diese Häuser elektrisches Licht. Es waren also höchst beengte Verhältnisse, Zumutungen an Menschen, die zu schwach waren, um sich gegen solche Zumutungen aufzubäumen. Eines waren sie allerdings nicht: sozial schwach. Wer materiell schlecht gestellt ist, ist deshalb nicht sozial schwach! Unsere sprachverhunzte Zeit stempelt arme oder schlecht Gestellte als sozial schwach ab.

Mich berührte in den Erzählungen die lebenskluge Solidarität in den Familien - deren soziale Stärke. Da war ein Vater arbeitslos geworden. Die Mutter ging Waschen: Mein ältester Bruder ging mit 17 freiwillig in den Krieg. Sein Bett wurde für die kleine Schwester frei. Der Bruder fiel bald, und die Schwester sagt als alte Frau: Es ist doch schlimm, wenn so ein Kind aus dem Hause gehen muß, um den Eltern nicht zur Last zu fallen, und dann stirbt er. Die Mutter war energisch: war weniger zum Kuscheln. Das geboten die Umstände. Aber die alte Erzählerin erinnerte sich, wie die Mutter sie mal auf den Schoß genommen und leise eine Melodie gesummt hatte: Also ist sie ja nicht schlecht gewesen, um Gottes willen! Von einem alkoholkranken Vater wird erzählt, der arbeitslos geworden war. Eine Dame des Adels, die sich auf Ratschläge für kleine Leute was einbildete, riet der Mutter, sich von diesem Mann zu trennen. Das lehnte sie ab; denn ihr Mann brauche jetzt ihre Hilfe. Ist so jemand sozial schwach? Die Mutter fand den Guttempler-Orden. Dieser half. In der engen Küche saß die Familie unter einer Funzel beisammen und beratschlagte, was vom schmalen Budget zu kaufen Vorrang hatte. Und als die Brüder und der Vater arbeitslos waren, wurde das Bissel, das Mutter und Tochter verdienten, geteilt. Die Schwester gab jedem Bruder fünf Mark Taschengeld, damit sie nicht ausgeschlossen sind von bescheidenen Vergnügungen. Und als das Mädchen sich verliebt hatte und vor der schicklichen Zeit schwanger wurde, gab es keinen Krach. Man schaukelte das Kind mit vereinten Kräften. Dessen Vater war in der linken Jugendbewegung aktiv. Die Nazis holten ihn sehr früh ab. Er kam in Buchenwald um.

Ich ging an die beschriebenen Handlungsorte nach Moabit, in die Emdener Straße zum Beispiel, auf den Hinterhof. Dort hatte eine der Frauen als Mädchen bei Leierkastenmusik tanzen gelernt. Unter Bäumen. Heute reichen deren Kronen bis zur vierten Etage, wo damals fünf Menschen in Stube und Küche lebten. Es hat sich seither alles zum Besseren verändert. Die Bäume blieben, wachsen aber nicht bis in den Himmel. Das ist ebenso tröstlich und Mut machend, wie das, was uns zwei alte Menschen erzählten - von den unausbleiblichen Reibungen des dichten Beisammenlebens, aber eben auch von der dabei entstehenden Wärme in der Kälte schlimmer Zeit. Wir sehen darin, was soziale Stärke bewirkt.

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