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Berlin: 99 Zeilen Schwerk: Zeitreise in die Vergangenheit mit dem West-Berliner Wander-Buch von 1953

Jeder Mensch hat seine ihm von höchster Instanz zugeteilte Zeit. Was er daraus - macht, bleibt ihm überlassen, nie aber ohne höchstinstanzliche Begleitung.

Jeder Mensch hat seine ihm von höchster Instanz zugeteilte Zeit. Was er daraus - macht, bleibt ihm überlassen, nie aber ohne höchstinstanzliche Begleitung. Erst mit den zunehmenden Lebensjahren wird der Zeitbegriff handlich. So um plus-minus 60 herum. Dann wird ein halbes, mehr oder weniger bewusst erlebtes Jahrhundert sehr konkret. Darauf brachte mich ein Leser. Er hatte in seiner Bibliothek West-Berliner Wander-Wege gefunden, ein 104-seitiges Büchlein, das im März 1953 im Verlag Der Tagesspiegel erschienen war (Text Herbert Starke). Er schenkte es mir. Das Büchlein kostete seinerzeit 1,50 DM. Seinerzeit war auch meine Zeit. Es war der Anfang meines bald 50-jährigen Berlinertums. Als dieses Büchlein erschien, war ich hier, 15-jährig, spreeabwärts angelandet, wurde gelernter Berliner. Das vor allem dank meines langen Schulweges hinauf nach Reinickendorf. Immer Oberdeck erste Reihe, wo man damals rauchen durfte. Aber auch mit der Straßenbahn, die von den Eltern noch Elektrische genannt wurde. So machte ich meine ersten Erfahrungen mit Berlin, der Stadt, die einmal mein Beruf werden sollte. Das konnte der 15-Jährige damals nicht ahnen. Er hatte ganz andere Flausen im Kopf. Mein späteres Motto: Mach was draus! Ich will meine Gedanken wandern lassen.

Ich kann es nicht lassen, immerfort Lebensalter nachzurechnen. Auch im zehnten Jahr der deutschen Einheit taxiere ich das Alter junger Leute, überschlage, ob sie am deutschen Geschichtsknick noch west- oder östlich geprägt ins vereinte Land wanderten. Das ist der Versuch, sich Zeitpunkte immer wieder mit Rückberechnung zu vergegenwärtigen. Es sind heute gut zehn Jahre verronnen seit der Vereinigung. Und dieses versiegte Jahrzehnt reichte nicht aus, um das Trennende zwischen Deutschen restlos zu überwinden, um das auf die verderbteste deutsche Zeit gemünzte Wort bewältigen hier zu vermeiden. Damals, 1953, lag das Kriegsende erst acht Jahre zurück. Vieles lag in Berlin noch zertrümmert da. Aus den Trümmerresten wurden Berge gehäuft, die der flachen Berolina Figur gaben: Insulaner und Teufelsberg zum Beispiel. Die West-Berliner Wander-Wege führen uns 1953 noch nicht auf diese Höhen. Und auf den damaligen Jungen machte die Trümmerwüste des Hansaviertels, durch die sein täglicher Schulweg im Bus A 16 führte, einen besonders tiefen Eindruck. Da stand doch am Hansaplatz nur noch eine Apotheke, ein Haus aus roten Ziegeln? Dass man hier je wieder Wohnhäuser hinbauen würde, erschien ihm unvorstellbar. Und der noch sehr kahle Tiergarten? Er wurde mit Hilfe westdeutscher Städte und Gemeinden aufgeforstet, der Englische Garten angelegt, in den die noch sehr junge Königin Elizabeth II. eine Eiche pflanzte. Nie kann ich durch den uns heute so gewohnten Tiergarten gehen, ohne an diese Aufforstung dankbar zu denken. Und ich grüße die wenigen uralten Eichen oder Buchen, die viele Zeiten und Stürme überlebten. Und was macht man mit dem Tiergarten? Jedes Jahr im Sommer wird er jugendwahnig heimgesucht, vollgeschissen, vollgepisst, zertrampelt: Es lebe die umhimmelte Zielgruppe! Seid umschlungen, Geld-Millionen! Geld soll ja nicht stinken, dafür der Tiergarten.

Die Spree macht darum einen weiten Bogen. Und heute Vormittag versammeln sich am nördlichen Ufer, in Moabit, Freunde um Uli und Ruth. Sie blicken alle auf gut ein halbes Berliner Jahrhundert zurück - hier angelandet oder eingeboren. Sie werden mit Ruth und Uli anstimmen, was Adolf Glaßbrenner einer Moabiter Ausflugsgesellschaft als Berliner Lied geschrieben hatte: Auf, ihr Brüder, laßt uns singen / Unser Liedchen, das ihr wißt, / Doch die Spree soll den verschlingen / Der nur halb Berliner ist! Und zu den Freunden Ruth und Uli wandert das Wanderbüchlein weiter.

Ekkehard Schwerk

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