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Berlin: A 100: Die neue Autobahn kam unter die Räder

Attraktion Autobahn: Bevor der neue Abschnitt der A 100 am Freitag freigegeben wird, eroberten gestern Tausende Inlineskater, Rad- und Rollerfahrer den Stadtautobahn-Tunnel. Doch viele andere Berliner sind keineswegs in Volksfeststimmung: Die neue Verkehrsverbindung zwischen Autobahndreieck Tempelhof und Buschkrugallee hat Neukölln verändert.

Attraktion Autobahn: Bevor der neue Abschnitt der A 100 am Freitag freigegeben wird, eroberten gestern Tausende Inlineskater, Rad- und Rollerfahrer den Stadtautobahn-Tunnel. Doch viele andere Berliner sind keineswegs in Volksfeststimmung: Die neue Verkehrsverbindung zwischen Autobahndreieck Tempelhof und Buschkrugallee hat Neukölln verändert. Gewerbetreibende mussten ihre Betriebe schließen, Geschäftsleute verzeichnen sinkende Umsätze, Mieter suchen wegen Lärms, Staubs und Gestanks das Weite.

Doch auch viele ehemalige Anwohner statteten gestern der alten Heimat einen Besuch ab. Viele schnallten sich Inlineskates unter oder machten sich zu Fuß auf in den Tunnel. Ein erhabenes Gefühl, mitten auf der Fahrbahn zu laufen. Leise surren Inlineskater vorbei, Radler klingeln, Kinder jauchzen und warten auf das Echo. Statt Abgasmuff frische Luft. Das erste Auto im neuen Tunnel - von den Baufahrzeugen mal abgesehen - ist ein feuerroter Trabi, tiefergelegt und mit einem Michelin-Männchen auf der Haube. Doch statt Zweitaktgemischs fährt es mit Strom aus dem Akku, und statt des Knatterns hört man auf dem nagelneuen Belag nur das hohe Pfeifen eines Elektromotors. Das Tempolimit von 80 Stundenkilometern kann das Auto natürlich nicht ausreizen. Doch sein Besitzer, Marc Eberhardt, ist dennoch glücklich. Ausgerechnet an seinem 16. Geburtstag hat er für sein Spielzeug die ideale Piste gefunden.

Schon kurz vor elf Uhr sammeln sich Trauben von Radlern und Skatern an der Auffahrt von der Oberlandstraße. Doch oben bewegen sich die Autos noch in Kolonnen. Der zur Erkundung freigegebene Tunnel ist nur von Neuköllner Seite aus zugänglich. Also radeln die Grüppchen mit dem Stadtplan in der Hand Richtung Buschkrugallee, wo die Autobahn bis auf weiteres endet. Am Getränkestand werden schon "Raststätten-Preise" genommen, kritisiert einer. Mehr Rahmenprogramm hätten sich viele der Besucher gewünscht, aber sonst sind sie rundum zufrieden: "Schön, dass auch mal jemand an die Radfahrer denkt", sagt Klaus Schlack, der samt Familie gekommen ist. Als Frank Bielka, als Bau-Staatssekretär Vertreter von Senator Strieder, die Baukosten von rund 360 Millionen Mark für kaum mehr als zwei Kilometer Autobahn anspricht, sagt ein Premierengast ziemlich laut: "Dafür könnte man viele Radwege bauen."

Einige Besucher erinnern sich noch an die jüngsten Tunnel-Unglücke. Dass die Notausgänge, die von der einen Röhre in die andere führen, ziemlich schmal seien, wird da kritisiert. Sicher wolle man den Anwohnern und späteren Benutzern des Tunnels auch zeigen, dass hier mit zahlreichen Notruf-Boxen, Ausgängen und natürlich einer Antenne für den Handy-Empfang unter Tage modernste Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden seien, sagt Frank Bielka. Aber mit dem Fest am Sonntag sollte offenbar auch ein Schlussstrich unter eine lange Debatte gezogen werden. Auch mitten durch die Neuköllner SPD war der Riss gegangen, sagt Bielka. "Nun hoffen wir, dass das neue Straßenstück gut genutzt wird." Eine Anwohnerin kündigt allerdings an, dass sie die Ohren spitzen wird: "Wenn es hier an der Ausfahrt zu viel Krach gibt, mache ich Ärger".

Thomas Pohnke ist bereits vor Staub und Lärm geflohen, am Sonntag aber doch aus Rudow zur alten Heimat an die Buschkrugallee gekommen. "Ich habe früher Hermannstraße 136 gewohnt, direkt an der Einfahrt vom Tunnel. Aber als die Bagger vor anderthalb Jahren kamen, wusste ich: Jetzt ist Schluss." Von den 17 Mietsparteien in seinem früheren Wohnhaus seien nur noch zehn übrig. Andere Anwohner wiederum hatten keine Wahl als umzuziehen. Wie berichtet, wurden im Zuge der Autobahn-Verlängerung etwa 68 Häuser mit 500 Wohnungen abgerissen, 40 Gewerbetreibende gaben ihren Standort auf. Eva-Maria Priebe hat "keine andere Wahl als durchzuhalten". Die 50-Jährige betreibt im Haus Bürgerstraße 1 Ecke Buschkrugallee seit 20 Jahren einen Zeitungsladen. Vor vier Jahren starb ihr Mann, seitdem steht sie sieben Tage die Woche meist alleine im Geschäft. Frau Priebe kann die Freude von Autofahrern über die neue Verkehrsader nicht teilen: "Ich habe die Hälfte des Umsatzes verloren." Viele Kunden mussten Abriss-Häuser verlassen, andere genervte Mieter - vor allem Deutsche - zogen weg. Früher schloss die Geschäftsfrau gegen vier Uhr früh den gegenüberliegenden Parkplatz von Getränke Hoffmann auf, den auch ihre Kunden mitbenutzen durften. "Jetzt mache ich erst um 6.30 Uhr auf, früher lohnt es sich nicht mehr." Auch andere Kundschaft bleibt weg: Arbeiter, die früher in der nahegelegenen Industriegegend beschäftigt waren. Ob die neue Verkehrsader neue Kunden bringt? Eva-Maria Priebe: "Schlimmer kann es ja nicht mehr werden." Wenigstens am Sonntag herrschte im Laden Hochbetrieb.

Annette Kögel, Jörg-Peter Rau

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