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Berlin: Abdul Latif Salihi (Geb. 1943)

Er kam frei, sollte als Spitzel arbeiten, beantragte Urlaub – und floh.

Winter 1979, S-Bahnhof Friedrichstraße. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern und einem fünf Monate alten Baby auf dem Arm, ein Mann im Wintermantel wedelt mit Geldscheinen: „Please. Who takes?“ Abdul und Zubaida sind gerade aus dem Irak geflohen. Nun kämpfen sie mit alltäglichen Dingen: Wie bezahlt man eine U-Bahn-Fahrt?

Im Irak hatte Abdul von Anfang an Ärger. Der Weg von der elterlichen Farm zur Schule und zurück konnte täglich Hänseleien oder Schläge bedeuten. Schon als Kind lernte er, dass es Menschen erster und zweiter Klasse gab, dass die Reichen auf die Armen und die Armen auf die Kurden herabschauten. Er war Kurde. Nach der 6. Klasse zog Abdul zum Onkel nach Kirkuk, um dort die Oberschule zu besuchen. Er lernte seine Cousine Zubaida kennen und trat der Patriotischen Union Kurdistans bei. Kaum 20, saß Abdul zum ersten Mal im Gefängnis. 1971 heirateten Zubaida und Abdul. Die Lage im Irak hatte sich nicht gebessert. Politisch aktive Kurden verschwanden über Nacht, ganze Familien wurden vernichtet. Abdul hatte einen guten Job als Beamter und studierte Jura, Zubaida war schwanger und stillte ein erstes Kind – und trotzdem schien die Flucht der einzige Weg. In Kurdistan regneten die Bomben aus irakischen Flugzeugen. Die kleine Familie flüchtete in die Berge. Das zweite Kind war mittlerweile auf der Welt, blieb dort aber nicht lange: Der Junge starb an den Strapazen der Flucht. Der Rest gelangte mit Pferden auf halsbrecherischen Pässen in den Iran.

1975 gab es ein Abkommen zwischen Saddam Hussein und dem Schah von Persien. Abdul kehrte mit seiner Familie in den Irak zurück. Dort stellte man der Familie in Bagdad ein schönes Haus mit Dienern, Köchen und Chauffeur sowie die Bedingung, die Stadt nicht zu verlassen.

In einer heißen Sommernacht lag die Familie, die um einen Sohn gewachsen war, auf dem Dach. Es drangen Rufe herauf, Zivilpolizisten verlangten nach Abdul, nahmen ihn mit, erklärten nicht wohin und warum. Außer sich vor Wut und Angst, setzte Zubaida alles in Bewegung. Sie schrieb an Saddam, jeden Tag: „Wo ist mein Mann? Ich will ihn zurück. Wir haben zwei Kinder.“ Als das nichts half, lauerte sie dem Innenminister auf. „Was willst du?“, schnauzte er sie an. – „Meinen Mann.“ – „Du bist Kurdin!“ – „Na und?“

Irgendwann führte man Zubaida mit verbundenen Augen zu ihrem Mann. Er war blass, dünn und voller Läuse. Nach dem dritten dieser traurigen Treffen durfte Abdul plötzlich wieder nach Hause. Er sollte jetzt als Spitzel arbeiten. Er beantragte Urlaub und flüchtete mit seiner Familie über Bulgarien nach Ost-Berlin und von dort in den Westen.

Es dauerte ein Jahr, bis dem Asylantrag der Familie stattgegeben wurde. Unterdessen hatten sie in einem Studentenwohnheim und in einem stinkenden, unmöbilierten Zimmer gewohnt, das ihnen ein Betrüger angedreht hatte. Und sie mussten so viel lernen: Ofenheizung. Formulare. Was sagt man beim Arzt? Wohin bringt man die Kinder?

Abdul trug Zeitungen aus, eröffnete einen Imbiss in der Skalitzer Straße und später ein Taxiunternehmen. Zubaida arbeitete als Ladenhilfe und in der Altenpflege. Abdul bestand einen Sprachkurs, bekam einen Platz an der juristischen Fakultät, war jedoch zu alt fürs Bafög und schaffte das Studium neben dem Broterwerb nicht. Er liebte die Sicherheit in Deutschland, die Meinungsfreiheit, die Ordnung. Aber auch in der Demokratie sah er die Ungerechtigkeit: Der Wert des Menschen bemisst sich am Besitz.

Abdul engagierte sich für Flüchtlinge aus dem Irak, aber auch für alte Menschen. Abdul redete mit den Händen und auch viel mit dem Mund. Die Redefreiheit blieb für ihn kein theoretisches Gut. Zubaida musste sich manchmal in Geduld üben, liebte aber auch das Feuer ihres Mannes, seinen Charme und Witz.

Sie war gläubige Muslimin, Abdul weniger. Sie wollte das Kopftuch tragen, er riet ihr davon ab. Sie wollte, dass er fünfmal am Tag betet, er lehnte ab. „Du gehst in dein Grab, ich in meins“, sagte er. Die Kinder wurden frei erzogen. Die drei Mädchen praktizieren den Glauben der Mutter, die drei Söhne nicht.

Nach einem Herzinfarkt entdeckten die Ärzte den Krebs. Es kam zu Blutungen und einer Lungenentzündung. Nacheinander versagten die Organe. Abdul wollte so gerne noch die chinesische Mauer sehen. Am Krankenbett versprach ihm seine Tochter Archawan, dass sie die Reise organisiert. Anselm Neft

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