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Khaled Abdel Hamid al-Aboud aus Daraa im Süden Syriens.

© Doris Spiekermann-Klaas

Abgeordnetenhaus-Wahl: Ein Syrer in Berlin: Wie sich Demokratie anfühlt

Ein syrischer Journalist erlebt in Berlin seine erste freie Wahl. Das macht ihn glücklich und traurig - obwohl er Wahlen an sich zur Genüge kennt.

Kaum eine Straße in Berlin, in der keine Plakate mit den Kandidaten für die anstehenden Wahlen hängen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, man befände sich in einer Porträtausstellung. Im Gegensatz dazu springt einem von den Wahlplakaten in meiner Heimat Syrien – wo der Wahltag „demokratische Hochzeit“ genannt wird, obwohl er mit allem anderen als Demokratie zu tun hat – nur ein einziges Bild entgegen: das von Baschar al Assad. Das bietet sich einem selbst auf öffentlichen Toiletten (sofern man irgendwo mal eine findet) und stellt eine optische Beleidigung für das Auge der Bevölkerung dar, ganz zu schweigen von den Wahlparolen, die nur Parolen bleiben. In Syrien ist es sogar möglich, dass man Wahlplakate direkt an einer Ampel findet oder auf Schildern mit der Aufschrift „Achtung Baustelle“.

In Deutschland kann es passieren, dass man jemandem begegnet, der sich nicht für Politik interessiert. Wenn man ihn fragt, wen er wählen wird, sagt er: „Ich interessiere mich nicht für Politik.“ In Syrien kann es zwar ebenfalls sein, dass sich jemand nicht für Politik interessiert; dass er aber zur Wahl geht, steht außer Frage – schon kraft Gesetzes, andernfalls bekäme er Probleme mit dem Staat. Das Recht, nicht zu wählen, gibt es so nicht.

Doch selbst wenn man in Syrien von seinem Wahlrecht Gebrauch macht, steht man unter Kontrolle des Staates und des herrschenden Clans. Denn das syrische Parlament besteht aus 250 Mitgliedern, von denen 60 Prozent der Baath-Partei angehören, also jener Partei, die das Land und die Gesellschaft seit ihrem Umsturz unter der Führung von Hafiz al Assad am 8. März 1963 regiert. Das alles steht übrigens im Einklang mit der Verfassung, auch nach einer scheinbaren Reform im Jahr 2012, in deren Zuge die führende Rolle der Baath-Partei aus der Verfassung gestrichen wurde. Zuvor hatte die Partei 60 Prozent der Abgeordneten einfach ernannt, das Volk stimmte nur über 40 Prozent ab – die ebenfalls hinter der regierenden Partei und dem Sicherheitsapparat im Land standen. In Wahrheit hatte das Volk also erst recht keine Wahl, sondern nur einen Clan, für den es stimmen konnte.

Im Parlament verlaufen Abstimmungen immer im Konsens

So kann man davon ausgehen, und es ist immer noch so, dass es ausreicht, lesen und schreiben zu können, um ins Parlament zu kommen. Ein Beispiel dafür ist Diab al Mashi, der kein einziges Zeugnis über einen Bildungsabschluss besaß und dennoch von 1954 bis zu seinem Tod im Jahr 2009 durchgängig Abgeordneter war – dank des einflussreichen Clans, dem er angehört und der ihm den Eintritt ins Parlament ermöglichte. Da es also im syrischen Parlament de facto keine Opposition gibt, verlaufen Abstimmungen dort immer im Konsens.

In Deutschland ist das alles ganz anders. Hier regiert jene Partei, die vom Volk gewählt wurde. Außerdem gibt es Oppositionsparteien, die sich bei den Wahlen aufstellen lassen und die auf der politischen Bühne in Berlin präsent sind. Auch haben hier die Wähler einen maßgeblichen Einfluss auf den Beschluss von Gesetzen; die sind dazu da, dem Staat und den hier lebenden Menschen – Deutschen oder eben auch Flüchtlingen – zu dienen. In Syrien hingegen hat diesen Einfluss nur ein formales Parlament, in einem Land, in dem ein diktatorisches System herrscht, das auf nur einer einzigen Stimme, einer einzigen Partei, einer einzigen Farbe und einer einzigen Meinung basiert.

Vor sechs Monaten fanden in Syrien mitten im Krieg Parlamentswahlen statt. Trotz fünf Millionen geflüchteter, mehr als einer halben Million getöteter und – Berichten zufolge – mehr als 200 000 inhaftierter Syrer wurde gewählt und ein Parlament „unter einer Farbe“ gebildet. Ganz ohne Opposition, denn die würde einen Verstoß darstellen, für den man vom syrischen Gesetz geahndet wird. Dieses Parlament stellt eine Auszeichnung für all jene da, die während des Krieges gegen die Bevölkerung und hinter dem Regime standen.

So sind die Parlamentsmitglieder regimetreue Darsteller, die das Regime bei seinem Krieg gegen die Bevölkerung unterstützten; bei seinem Krieg gegen die Mutter des Soldaten, der im Kampf für die syrische Armee selbst getötet wurde; gegen den Bruder des von der Armee Getöteten; gegen den Soldaten der syrischen Armee, der im Krieg verletzt wurde.

Die Wahl in Berlin macht mich glücklich und traurig zugleich

Die Berliner Abgeordnetenhauswahlen machen mich glücklich und traurig zugleich. Glücklich, weil ich dabei zum ersten Mal in meinem Leben die Erfahrung machen werde, wie sich Demokratie in einem demokratischen Land anfühlt – auch wenn ich hier nicht wählen darf. Traurig, weil ich dieselbe Erfahrung in meinem Heimatland Syrien niemals machen konnte, obwohl ich dort wählen durfte – oder vielmehr: musste.

Der Text wurde von Melanie Rebasso aus dem Arabischen übersetzt.

Die Wahl in Berlin: Alle Entwicklungen und Ergebnisse in unserem Liveblog oder unter wahl.tagesspiegel.de

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