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Berlin: Adelheid Braun (Geb. 1913)

Auf der Schreibplatte des Sekretärs liegen große Lupen, ein Schuhkarton.

Bärchen sitzt noch immer auf dem Sekretär. Schräg nach vorn gebeugt, blickt er traurig aus mattschwarzen Kugelaugen. Sein Fell ist kratzborstig geworden, wie eine Matte aus Sackleinen. Bärchen aus der Steiff-Familie war 93 Jahre lang ein treuer Freund von Adelheid, die sich Heide rufen ließ, weil sie ihren Namen nicht mochte.

Neben Bärchen stehen die Fotos von Norman, ihrem Ehemann, vor 21 Jahren gestorben, den Kindern, Enkeln und Urenkeln. Eine braunstichige Fotografie zeigt Heide im Sommerkleid, eingehakt bei Norman in Binz auf Rügen. Sie lächelt, er gibt den Gentleman. Es waren die guten Jahre vor dem Krieg.

1. April 1939. Die Trauung in der Dahlemer St.-Annen-Kirche wirkt wie eine Krönungsmesse. Heide ist 25, wohlbehütete Tochter eines Bergbauingenieurs mit Abitur und Schneiderlehre. Von beruflichen Plänen ist nichts bekannt. Die Ehe mit Norman, einem aufstrebenden Architekten, sichert ein von wirtschaftlichen Sorgen unbelastetes Leben.

Heides Fotoalbum zur großen Hochzeitsreise, einmal quer durch Italien, ist ein Kunstwerk, eine Melange aus Fotoreportage und Illustration. Adelheid knipst mit einer Rolleicord, setzt kleine kolorierte Paar-Szenen zwischen die Fotos und textet mit spitzer Feder. Zu einem Foto des Gatten, der über einer Balkonbrüstung lehnend in die Weite schaut, schreibt sie: „Herr Unentschlossen“. Das Dokument einer fröhlichen Unbeschwertheit. Keine Andeutung oder Ahnung von der großen Katastrophe, die sich anbahnt.

Auf der Schreibplatte des Sekretärs liegen große Lupen, daneben ein Schuhkarton, berstend voll mit Briefen und Ansichtskarten. Im Bauch des Möbels lagern weitere Papiergattungen: Tagebücher, Zeichnungen, Einladungen, Menükarten, Zeitungsausschnitte, große Briefumschläge, in denen kleinere stecken. Im Tagebuch aus den Kriegsjahren geht es um die Entwicklung des Sohnes. „Er redet wie ein Alter“, schreibt Heide, „nur das F will ihm nicht von den Lippen: Schleicher = Fleischer. Schliege = Fliege“. Als die Bomber immer häufiger über Berlin fliegen, wird sie mit den Kindern, Thomas und Katrin, 1943 nach Ostpreußen verschickt. Auf den Fotos aus dieser Zeit ist der friedliche Landsommer das Thema. Vom Krieg berichten die kleinen Postkarten, die aus Berlin eintreffen. Sie kommen von den Eltern, die nach einem Bombentreffer auf ihr Steglitzer Mietshaus zu den Schwiegereltern gezogen sind, die in Kladow eine Villa bewohnen. Überschrieben sind die Postkarten mit „Lebenszeichen“. Am letzten Januartag 1944 erhält Heide keine Postkarte, sondern ein offizielles Telegramm: „Villa Braun am 30. Januar durch Volltreffer vernichtet. Insassen tot.“

Die junge Familie kommt heil durch den Krieg. In Kladow richten sie sich im unzerstörten Stallgebäude ein, bauen Gemüse an und bleiben von den Hungerwintern verschont. 1947 kommt die Jüngste zur Welt, Susanne. Gegen die Hirnhautentzündung gibt es kein Penicillin, das Gehirn wird geschädigt. Heide ist fortan nicht nur Susannes Mutter, sondern auch ihre engste Verbündete gegen eine zuweilen feindliche Umwelt.

Die älteren Kinder schwärmen aus in die Welt, Heide hält Kontakt. Sie schreibt Briefe und erwartet Antworten, auch von Susanne, die seit ihrem 25. Lebensjahr in einer anthroposophischen Dorfgemeinschaft in der Nähe des Bodensees lebt. Manchmal zeichnet Heide noch kleine Karikaturen für Veröffentlichungen im Familienkreis. Sie geht gerne ins Kino und noch lieber ins Theater, begleitet von ihrer Schulfreundin, die Schauspielerin am Schiller-Theater war. Mit Norman reist sie nach Namibia, wo ihr Vater vor einer Ewigkeit als Bergbauassessor arbeitete, um Ruhm und Reichtum des Kaiserreiches zu mehren.

Nach Normans Tod zieht die Tochter mit Kindern zu Heide. Die sitzt am liebsten am Sekretär, um zu schreiben und zu lesen, auch die Nachrufe im Tagesspiegel. Als die Augen unbeweglicher werden, liest ihr die Tochter aus der Zeitung vor. Bärchen schaut zu, wie sich seine Freundin langsam aus dem langen gemeinsamen Leben verabschiedet. Thomas Loy

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