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Berlin: Älter als die Stadt Berlin

Archäologen fanden Grabstätte an der Nikolaikirche und Hinweise auf eine frühgeschichtliche Besiedelung

Überreste von mindestens 70 Toten haben Archäologen vom Landesdenkmalamt bei Ausgrabungen direkt vor einer Mauer der Nikolaikirche im gleichnamigen Viertel freigelegt. Die Nachforschungen auf einem bisher noch nie untersuchten Teil des erst im frühen 18. Jahrhunderts aufgegebenen Friedhofs finden im Vorfeld von Sanierungsarbeiten an dem alten Kirchengemäuer statt. Die übereinander geschichteten Bestattungen, die sich eng an die gebogene Chorwand anschmiegen, sind bis zu einer Tiefe von drei Metern nachweisbar. „Nach unseren Berechnungen könnten allein auf diesem Fleck etwa 400 Bestattungen liegen. Das deutet auf drangvolle Enge hin und wirft ein interessantes Licht auf wenig komfortable Lebensverhältnisse im alten Berlin“, sagt der Archäologe Uwe Michas, der auch Ausgrabungen in der Marienkirche und in der Klosterkirche betreut.

Geradezu elektrisiert ist Michas angesichts eines vor kurzem gefundenen Schädels eines etwa 60-jährigen Mannes. Er muss in mittelalterlicher Zeit massive Verletzung vielleicht durch Schwerthiebe erhalten haben. Dass er sie überlebte, deuten verheilte Schlagspuren an. Viel Freude an seiner Genesung dürfte dieser offenbar sehr kräftige Mann nicht gehabt haben, denn nach einer Erholungsphase wurde er durch einen weiteren Hieb tödlich niedergestreckt. Da der Mann noch fast alle seine Zähne besaß, könnte er zum gehobenen Bürgertum gehört haben, das im Mittelalter blutige Fehden mit raubenden und mordenden Rittern austrug.

Zu den herausragenden Resultaten der Grabung zählt auch ein unscheinbares Stück grauer Keramik, das aus einer tiefen Erdschicht ans Tageslicht kam. Es handelt sich um den Ausguss eines flaschenförmigen Gefäßes, das nach ersten Untersuchungen aus dem frühen 13. Jahrhundert oder sogar noch aus slawischer Zeit stammen könnte. „Als offizielles Gründungsdatum der Doppelstadt Berlin-Cölln gilt das Jahr 1237, doch wie dieser Fund beweist, lebten hier im heutigen Nikolaiviertel offenbar Menschen schon längere Zeit vor dieser ersten urkundlichen Erwähnung“, wertet Michas dieses interessante Indiz für eine sehr frühe Besiedlung in vorgeschichtlicher Zeit.

Die Archäologen versprechen sich von der Untersuchung der Skelette neue Erkenntnisse über das Alter der Urberliner sowie ihre durch mangelhafte Ernährung bedingten Krankheiten, das zahlenmäßige Verhältnis von Männern und Frauen oder auch über die hohe Kindersterblichkeit und ihre Ursachen. Der sechzigjährige Mann mit den Schädelverletzungen wenigstens muss zu seiner Zeit als Methusalem gegolten haben. Sein geradezu biblisches Alter erreichte kaum jemand, es sei, er gehörte zu den Gutbetuchten, und das waren im alten Berlin nur wenige Leute.

Helmut Caspar

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