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In diesem Wohnblock in Weißensee wurde vergangene Woche ein zweijähriges Mädchen tot aufgefunden. Die Familie stand unter Beobachtung des Jugendamts.

© dpa

Ämter in der Kritik: Die Hauptstadt der vernachlässigten Kinder

Nach dem Tod der kleinen Zoe aus Weißensee steht die Arbeit von Berliner Ämtern in der Kritik: Geld und Personal sind knapp. Die Fehleranfälligkeit unter Sozialarbeitern und Jugendämtern steigt.

Noch sind die Umstände, die zum Tod der kleinen Zoe aus Weißensee führten, nicht genau geklärt. Doch der Fall löst eine Debatte über die Qualität der Hilfen von freien Trägern und Jugendämtern für überforderte Familien aus – und die Finanzierung dieser Leistungen. Die Chefin des Berliner Kinderschutzbundes, Sabine Walther, sagte dem Tagesspiegel, dass die Hilfen zur Erziehung unter extremem Kostendruck stünden. Deshalb „wundere ich mich, dass es bisher – zum Glück – nicht noch mehr Todesfälle gab“.

Thilo Sarrazin habe in seiner Zeit als Finanzsenator die Gelder gekürzt, die Bezirke für die Jugendhilfe erhalten und so den Kostendruck verursacht. Wegen der kleinen Budgets sei die Zeit knapp bemessen, die Sozialarbeiter von freien Trägern in den Familien verbringen. „Ein weiteres Problem ist das Alter von über 50 im Durchschnitt unter den Mitarbeitern der Jugendämter, weil es keine neuen Stellen gibt“, sagt Walther. Krankheit und Überlastung von Jugendamtsmitarbeitern behinderten Absprachen mit Sozialarbeitern von freien Trägern. Weil außerdem noch die Betreuungsstunden für schwierige Fälle oft zu knapp bemessen seien, „steigt die Fehleranfälligkeit“.

Angelika Schöttler, Bezirksbürgermeisterin Tempelhof-Schöneberg.
Angelika Schöttler, Bezirksbürgermeisterin Tempelhof-Schöneberg.

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Kaum ein halbes Jahr ist es her, dass Experten genau das Gegenteil beklagt hatten: Millionen versickerten im Geschäft mit den Hilfen zur Erziehung, hieß es. Eine Kritik, die Diakonie, Paritäter und Bezirke mit Zahlen widerlegen. Nach einer Studie der Universität Koblenz vom Oktober 2010 lägen die „durchschnittlichen Kosten pro Fall in Berlin unterhalb der Werte von Bremen und Hamburg“ – und sogar unterhalb des Durchschnitts der 13 untersuchten Städte. In einem weiteren Vergleich der Stadtstaaten aus dem Jahr 2007 werden die niedrigen Berliner Fallkosten auf die mit den Trägern „vereinbarte pauschale Absenkung der Entgelte“ zurückgeführt.

Das gute Zeugnis ist ein geringer Trost, denn keine andere deutsche Stadt gibt in der Summe mehr Geld aus für die Einzelfallhilfen als Berlin. Zu viel fand der damalige Finanzsenator Sarrazin (SPD) und kürzte in den Jahren 2002 bis 2006 die Summe, die das Land an die Bezirke überweist, pauschal um mehr als 130 Millionen Euro. Bis heute gibt Berlin 40 Millionen Euro weniger für Erziehungshilfen aus als noch vor zehn Jahren, obwohl die Zahl der Hilfebedürftigen wieder stieg.

Ursache sei die „Schattenseite der modernen Familienformen“, sagt der Arbeitsbereichsleiter Jugendhilfe der Diakonie, Ralf Liedtke. In Großstädten wie Berlin, gebe es mehr überforderte alleinerziehende Mütter, denen mal die Hand ausrutscht als in Kleinstädten, wo Nachbarn nach dem Rechten schauen. Auch sind Kinder in der Hauptstadt von Singles und Patchwork-Familien oft im Wege bei der Partnersuche oder wenn ein neues Familienmitglied sein Recht beansprucht.

Deshalb müssen die Ämter in Berlin öfter einschreiten als anderswo und das kostet: Je 1000 Einwohner unter 21 Jahren gibt die Stadt 510 000 Euro aus für Einzelfallhilfen, mehr als Bremen (469 000 Euro) oder Hamburg (397 000 Euro). Doch dieser Abstand wäre noch viel größer, wenn die Betreuungskosten pro Fall in Berlin nicht weit unter dem Bundesdurchschnitt lägen. Die „Erziehungsarmut“, so Liedtke, habe in den vergangenen zehn Jahren drastisch zugenommen: Eltern, die morgens im Bett bleiben, ihren Kindern kein Frühstück machen und sie nicht in die Schule schicken.

Doch obwohl die Zahl der vernachlässigten Kinder wächst, hat der Senat die Mittel für die Hilfe zur Erziehung drastisch gekürzt: „Innerhalb von vier Jahren sind die Durchschnittskosten pro Fall um 10 000 Euro gesunken“, sagt Elfi Witten, Sprecherin des Paritätischen Wohlfahrtverbandes Berlin und der Liga-Wohlfahrtverbände. Und obwohl die Zahl der betreuten Kinder heute höher liegt als im Jahr 2002, bekommen die Träger 40 Millionen Euro weniger als damals.

Weil nun auch weniger weggeschaut wird als früher, werden auch mehr Fälle sichtbar. Bei den Jugendämtern gingen mehr Hinweise auf Problemfamilien ein, auch Schulen und Kitas meldeten häufiger auffällige Kinder, sagt Angelika Schöttler (SPD) Bezirksbürgermeisterin in Tempelhof-Schöneberg. Mehr Maßnahmen werden aber vor allem nach spektakulären Fällen wie dem Tod des kleinen Kevin in Bremen bewilligt, sagt Andreas Höhne (SPD) Bezirksstadtrat Reinickendorfs. In der Regel befänden sich Sozialarbeiter aber auf einer Gratwanderung zwischen Sparzwängen und der Sorge um das Wohl der Kinder, sagt Ursula Meys (SPD), ehemalige Bezirksstadträtin aus Spandau.

Viele Kommunalpolitiker betonen, dass Amt, Träger und Familie sich eng abstimmen. Helfer könnten aber nicht überraschend in einem Haushalt auftauchen, weil die Eltern dem Einsatz zuvor schriftlich zustimmen müssten. An deren Mitspracherecht sei der Versuch gescheitert, Trägerverbünde mit festem Budget einzurichten, sagt Monika Herrmann (Grüne) Bezirksstadträtin Friedrichshain-Kreuzbergs. Dem Gesetz nach darf die Familie einen Träger ihrer Wahl aussuchen, sofern dieser eine Zulassung hat.

Laut Ursula Meys besteht ein „sehr enges Controlling“ zwischen Bezirk und Freien Trägern. Ihre Kollegin Manuela Schmidt (Linke) aus Marzahn-Hellersdorf spricht von „monatlichen Prüfungen“ der Einzelfallhilfen. „Spätestens nach einem halben Jahr wird die Hilfe grundsätzlich überprüft“, sagt auch Petra Schrader. Wenn die im „Ersthilfeplan“ festgelegten Ziele nicht erreicht seien, werde auch nach der Verantwortung der Eltern gefragt.

Allerdings schränkt der Personalmangel in den Bezirken den Umfang der Kontrollen ein. Man habe keine Möglichkeit, sich die Arbeit der Träger in allen Einzelfällen genau anzusehen, räumt Ursula Meys ein. Wenn ein Mitarbeiter aber zwischen einem Kind, dessen Wohl in einer Familie gefährdet ist und einem Verlängerungsantrag entscheiden müsse, sei die Priorität klar, sagt Angelika Schöttler.

Da jeder einen Anspruch auf Hilfen zur Erziehung hat, kann der Bezirk über den Bedarf nur im Einzelfall entscheiden und nicht „von oben regulieren“, sagt die Pankower Jugendstadträtin Christine Keil: „Ich kann keinem Mitarbeiter sagen, nach der Bewilligung von 15 neuen Fällen ist Schluss.“ Für Manuela Schmidt ist eine familien- und gesellschaftspolitische Debatte notwendig – „die Jugendämter sind doch nur am Ende der Kette“.

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