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Berlin: Afrika fängt gleich hinter der U-Bahn an: ein spätsommerlicher Streifzug durch den Tierpark und das Schloss

Was meine vierjährige Tochter Sophie und mich in regelmäßigen Abständen veranlasst, mit der U-Bahn nach Friedrichsfelde zu fahren, ist die Besuchspflicht bei Hirsch Heinrich. Heinrich ist der erkorene Bilderbuchliebling meiner Tochter, lebt im Tierpark oder, um genau zu sein, im Schlosspark Friedrichsfelde und ist angeblich ganz wild auf Besuche von freundlichen Kindern.

Was meine vierjährige Tochter Sophie und mich in regelmäßigen Abständen veranlasst, mit der U-Bahn nach Friedrichsfelde zu fahren, ist die Besuchspflicht bei Hirsch Heinrich. Heinrich ist der erkorene Bilderbuchliebling meiner Tochter, lebt im Tierpark oder, um genau zu sein, im Schlosspark Friedrichsfelde und ist angeblich ganz wild auf Besuche von freundlichen Kindern. Hinter dem Eingang "Bärenschaufenster", der direkt an der U-Bahnstation liegt, besteigt Sophie den gemieteten Bollerwagen, mit dem ich, wie immer, direkt in die große Parkachse einbiege, die durch die Hirschgehege schnurgerade auf das Schloss zuführt. Während wir zwischen Rothirschen, Timorhirschen, Vietnam Sikas und Wapitis nach Heinrich Ausschau halten, rückt die zartrosa Barockfassade des Schlosses unaufhaltsam näher. Heinrich dagegen ist nicht auffindbar.

Schläft, mutmaßt meine Tochter, hat sich versteckt. So, wie er das jedesmal macht, wenn wir ihn besuchen wollen. In dem Kanal zwischen Hirschpark und Schlossgarten raufen sich die Pelikane mit ihren dicken Schnäbeln das Gefieder. Im Wasser dümpeln die Reste ihres Mittagessen leblos vor sich hin, starre Augen, Bauch nach oben. Schnell passieren wir die Kanalbrücke, schmaler Steg zwischen Naturgesetzlichkeiten und Kunst, und gelangen in den Schlossgarten. Hier wachsen feuerrote Barockschnörkel auf rechteckigen Rasenflächen, die Fontänen des Wasserbeckens vor der Schlossrampe glitzern in der Sonne. Schööön, sagt das Kind. Nach kurzem Zögern geben wir unsere Equipage in die Obhut einer freundlichen Museumswärterin.

Ich schlüpfe in ein Paar überdimensionale Filzlatschen, während das Kind auf Socken durch die königlichen Gemächer schlittern darf. Wir sind ganz allein hier, schleichen mit angehaltenem Atem durch die sparsam möblierten Räume, ein paar dezente Streiflichter höfischer Wohnkultur, Fayencen, Silberwaren, Gemälde und Wandbespannungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Die Sonnenstrahlen, die durch die hohen Fenster fallen, malen wundersame Schatten auf das gewienerte Parkett. Der König ist nicht zu Hause, aber aus dem ersten Stock dringt leise Musik. Die Puschen in den Händen husche ich hinter meiner Tochter her die Treppe mit dem geschnitzten Eichengeländer hinauf. Im stuckverziertem Festsaal stimmt sich ein Pianist am weißen Flügel auf das nachmittägliche Kammerkonzert ein. Über ihm leuchtet ein gemalter Wolkenhimmel im Deckenspiegel.

In der Galerie hebe ich Sophie in die Höhe, damit sie durch die Fensterscheibe in den Garten hinunter sehen kann. Hinter dem Wasserbecken wartet der Eisverkäufer auf Kundschaft, über den breiten Parkweg, den wir gekommen sind, sieht man bis zum Terrassencafé. Das Schloss, das auf den ersten Blick an den Rand des Parkes gedrängt erscheint, ist in Wirklichkeit sein Herz. Die fürstlichen Tiergehege, vom ersten Schlossherrn Ende des 17. Jahrhunderts angelegt, sind die Keimzelle des modernen Tierparks. Der Zauber des Parks veranlasste Fontane in seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" seitenlang in der Geschichte des Schlosses zu schwelgen. Vom ausgehenden 17. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert wurde Friedrichsfelde von der weitverzweigten Familie des preußischen Könighauses genutzt. Keiner blieb lange, aber alle haben den Ort genossen, getanzt und gefeiert.

Von Schau- und Schäferspielen, drinnen und draußen, erzählt Fontane, von einem Übermaß an Natur und, wer hätte es anders erwartet, an Frauen, die diese Natur zu nutzen verstehen, als grünes Refugium oder als Vergnügungstätte. Der letzten adligen Bewohnerin, der Prinzessin von Holstein-Beck, die zwischen 1800 und 1806 Hof hielt, schreibt er einen mehr als zwiespältigen Ruf zu, aber ihre Feste sind so glänzend, dass nicht mal Königin Luise widerstehen kann. Nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon endet das höfische Treiben. Die Familie von Treskow, die den Besitz 1816 erwirbt, verwandelt ihn in ein Gut mit primär landwirtschaftlicher Nutzung. Aber der Park wird weiter gehegt. Der neue Gutsherr lässt ihn von dem königlichen Garteningenieur Peter Joseph Lenné zu einem Landschaftspark des 19. Jahrhunderts umgestalten, in dem die Dorfbewohner zu festgelegten Zeiten spazieren gehen dürfen. 1945 stirbt der letzte von Treskow auf der Flucht.

Harte Zeiten, auch für das Schloss und den Park, aber echte Schlossgeschichten lassen sich nicht unterkriegen. In ihrem Buch "Ich bin meine eigene Frau" erzählt die legendäre Charlotte von Mahlsdorf, wie sie 1946, damals noch als Lothar Berfelde, dem Gerücht, das Schloss solle abgerissen werden, in den Friedrichsfelder Park folgt und sich der Gutsverwaltung als Schlossverwalter anbietet, um das Gebäude, das sie seit ihrer Kindheit fasziniert, zu retten. Charlotte darf tatsächlich einziehen. Sie putzt und wienert, was den Vandalismus überlebt hat, verteilt ihre Gründerzeitschätze in den leeren Räumen, stopft eigenhändig die zerbrochenen Fensterscheiben und heißt die eintreffenden Flüchtlinge am Hofe willkommen. 1948 muss Charlotte das Schloss räumen. Auch Sophie und ich stehen wieder draußen in der Sonne. Das Kind hat ein Eis bekommen. Vom Rand des Wasserbeckens sehen wir die Besucher durch das zweite, schlossnahe Eingangstor des Tierparks defilieren.

Die gemauerten Torpfeiler sind von zwei tänzelnden Hirschen gekrönt. Das ist das Tor durch das Hirsch Heinrich, Sophies Bilderbuchliebling, nach einer winterlichen Irrreise reumütig in seinen Tierpark zurückkehrt. Die beiden Hirsche sind in die liebevollen Illustrationen des Zeichners Werner Klemke eingegangen. Zum ersten Mal ist sein Buch 1960 erschienen, da war der Tierpark Berlin-Friedrichsfelde gerade fünf Jahre alt. Seitdem ist er mit Tiergeschichten berühmt geworden. Gleich neben dem Schloss lauern die Alligatoren zwischen tropischen Grünpflanzen. Auch eine Schlangenfarm gehört zu den zeitgenössischen Nebenbauten des Schlosses. Östlich der historischen Parkgrenze beginnt die Illusion der Steppe. Hier ist das Afrikanum mit seinen weitläufigen Anlagen für Zebras und Wildesel, etwas nördlich davon das Giraffenhaus.

Schon von weitem kann man die hohenTiere vor dem blauen Horizont schreiten sehen. Die jüngsten Tierparkgeschichten waren die Schlagzeilen über Matibi und Tutume, die beiden Elefantenbabys, die in diesem Jahr auf die Welt kamen. Ein Stichwort für die Vierjährige. Bei aller Liebe zur Literatur ist sie nicht bei Hirsch Heinrich stehen geblieben. Also Elefanten. Ich greife zur Zugstange des Bollerwagens. Die Gefahr, vom Weg abzukommen, beträgt hundert Prozent, trotz der zahlreichen Lagepläne. Zu verschlungen sind die Pfade, zu lieblich die Dichtungen, zu groß die Gefahr, sich, ganz im fontaneschen Sinne, vor überraschend auftauchenden Gehegen zu divertieren oder in Geschichten am Wegesrand zu verlieren. An einem Süßwarenstand fülle ich für Sophie ein halbes Pfund Gummitiere in eine Papiertüte, während mir freilaufende Insekten um die Ohren schwirren. Ein Herr mit Kamera auf dem Bauch und staubigen Sandalen sieht mir mit schräg geneigtem Kopf dabei zu. "Haribo macht Bienen froh und die Wespen ebenso", deklamiert er. Im fürstlichen Tierpark Friedrichsfelde kann jeder nach seiner Façon zum Dichter werden.Edda Helmke ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr neuer Roman "Pepsi im Waschsalon" erscheint im September im Malik Verlag, München

Edda Helmke

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