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Berlin: Akten ohne Staat: Das 35 Kilometer lange Erbe Preußens

Händewaschen ist wichtig, sagt Hartmut Prudlow, der Mann in der "Aktenschleuse". Vor und nach dem Essen.

Händewaschen ist wichtig, sagt Hartmut Prudlow, der Mann in der "Aktenschleuse". Vor und nach dem Essen. Nachher wegen der Fettfinger, vorher wegen des Löschsandes, der, vor Jahrhunderten ausgestreut von einem Kanzleischreiber, immer noch zwischen den Blättern der Aktenbündel liegt. Prudlow schleust die Papierbündel aus den Magazinen in den Benutzersaal und zurück. Die mit den gelben Laufzetteln sind aus dem Westhafen, die mit den roten aus dem Bestand im Haus.

Kommt ein Forscher aus dem Benutzersaal, noch fiebrig und benommen von der Zeitreise durch die preußische Vergangenheit, muss er den Erhalt der Akten quittieren. Es folgen Einträge in das Eingangsbuch, später in das Rückgabebuch. Ein Benutzerblatt wird beigelegt, für die Statistik und die Innenrevision. "Wie im Kaufmannsladen", sagt Prudlow, der schon als kaufmännischer Angestellter gearbeitet hat. Ein Vorgang von "tödlichem Ernst", sekundiert Archivdirektor Jürgen Kloosterhuis. Wird eine Registratur verwechselt, ein Zettel vertauscht, verschwindet die Akte in einem großen schwarzen Loch. Sie existiert zwar noch irgendwo in einer Pappschachtel, aber für die Fachwelt ist sie verloren, bis sie vielleicht wiederentdeckt wird.

Der Staat kam abhanden

Das "Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz" in Dahlem verwaltet das schriftliche Erbe des untergegangenen Preußen. Auf etwa 35 Kilometer lässt es sich bemessen. Damit ist das "GeStA PK" eines der größten Archive in Deutschland, allerdings ist der Aktenzufluss im Gegensatz zur Konkurrenz in Münster oder Koblenz nur ein "dünnes Rinnsaal". Es kam 1947 der zugehörige Staat abhanden, und die Akten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Freimaurerlogen und großer preußischer Familien wie derer zu Dohna sind zwar ein willkommener, aber vom Volumen her geringfügiger Ausgleich. Ein Staatsarchiv ohne Staat zu leiten, ist nicht ganz einfach. Er sitze auf einem "heißen Stuhl", sagt Archivdirektor Kloosterhuis und freut sich über die Wirkung solch flapsig-provokanter Kerbungen im feingeschliffenen Redefluss. Da sind zum einen die Beamten des Rechnungshofes, deren Arbeitshypothese lautet: Je ferner der Gegenstand auf der Zeitschiene, desto geringer das Interesse.

Dann gibt es das komplizierte Interessengeflecht innerhalb der Stiftung. Am stärksten brodelt unter dem Chefsessel jedoch der polnische Anspruch auf den wertvollsten Schatz des Hauses: Die Akten der alten preußischen Territorien im Osten. Der große Name "Preußisches Geheimes Staatsarchiv" über dem Eingangsportal steht in Zeiten von Spardebatten und Spaßkultur unter zunehmendem Rechtfertigungsdruck.

1924, als das schlossähnliche Archivgebäude in Dahlem eröffnet wurde, erfreute man sich noch höchster politischer Aufmerksamkeit. Der preußische Ministerpräsident Otto Braun kam persönlich vorbei, die große Tat zu würdigen. "Preußisch-Oxford" sollte auf der Domäne Dahlem entstehen, erzählt Kloosterhuis. Am Endpunkt einer neuen Verbindungsstraße mit Brücke über der U-Bahnlinie 1 hätte das Archiv gestanden, als dominierender Zentralbau. Die Planungen gingen im Sturm der Zeiten unter. In den Jahren 1943 / 44 wurden etwa 80 Prozent des Archivbestands in Bergwerke bei Staßfurt und Schönebeck ausgelagert. Durch den Krieg kam das Gebäude des Staatsarchivs relativ unbeschadet.

Erst nach Ende der Kampfhandlungen in Dahlem, am 29. April 1945, brannte der größere Teil des Magazintraktes hinter dem Hauptgebäude nieder, so berichtet der Augenzeuge Paul Freudenberg, damals Buchbinder und Restaurator. Rotarmisten hätten es auf der Jagd nach Beute angesteckt. Der Magazintrakt wurde später rekonstruiert und beherbergt heute das Museum für Europäische Kulturen.

Nur der nördliche Gebäudezipfel, der von den Flammen verschont blieb, wird noch vom Archiv genutzt. Hier lagern die Bestände des alten Staatsarchivs Königsberg, die im Krieg nach Göttingen ausgelagert wurden. Darunter auch Urkunden des Deutschen Ritterordens aus dem 13. Jahrhundert, die "Perlen des Archivs". Der in Sachsen-Anhalt lagernde Hauptbestand wurde nach Sichtung durch die Russen der DDR übergeben, die ihn nach Merseburg brachten. Von dort kamen die Archivalien 1993 zurück nach Berlin und wurden in einem umgebauten Speicher im Westhafen eingelagert. Fordert ein Nutzer bestimmte Akten an, werden sie in einem Kleintransporter nach Dahlem gebracht - für die Restauratoren ein schmerzhafter Kompromiss. "Jeder Tritt auf die Bremse kostet ein paar Millimeter Abrieb", sagt Kloosterhuis.

Seit 1993 wird an der "Verzahnung" der Dahlemer und Merseburger Bestände gearbeitet. Die "Tektonik", so bezeichnen Archivare die innere Systematik der Bestände, muss angeglichen werden. Für die Nutzer ist die Zusammenführung ein Gewinn. Zwischen 1996 und 1999 stieg die Zahl der "Aktenbewegungen" von 140 000 auf 160 000 und die Zahl der "Nutzertage" (etwa 13 000) liegt im bundesweiten Vergleich im vorderen Drittel.

Vor zwei Jahren waren Hobbyhistoriker aus Posen (Poznan) in Dahlem, um Bauakten zu den preußischen Festungsanlagen ihrer Stadt einzusehen. Zunächst musste Kloosterhuis sie abweisen, da die Zeichnungen noch nicht gesichtet und zugeordnet werden konnten. Die Polen beknieten ihn jedoch solange, bis er ihnen die Akten in einem separaten Raum überließ, damit sie sich selbst hindurcharbeiten konnten.

Michael Waldschmidt aus Frankfurt am Main, eigentlich Fernsehjournalist, kämpft sich gegenwärtig durch die "Generalia auswärtige Verhältnisse des Deutschen Bundes". Krisen und Konflikte des Staatenbundes zwischen Wiener Kongreß und dem Revolutionsjahr 1848 wolle er für seine Doktorarbeit aufarbeiten "Viel zu weit gefasst", hat er inzwischen bemerkt. Das fahrige Sütterlin in den Berichtsentwürfen der königlich-preußischen Gesandtschaft kostet Kraft und Zeit. In Wien war er schon. Jetzt sitzt er jeden Tag im Dahlemer Archiv. London und Paris wird er wohl nicht mehr schaffen.

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