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Berlin: Aktenphobie: Polizist ließ Arbeit liegen Bewährungsstrafe für einen 40-jährigen Beamten,

der 16 Fälle von jungen Straftätern nicht weitergab

Wenn jugendliche Straftäter vor Hartmut W. saßen, zitterten sie vielleicht vor einer Strafe. Er aber zitterte vor dem Aktenberg auf seinem Schreibtisch. So jedenfalls stellte es der 40-jährige Polizeibeamte gestern vor dem Amtsgericht Tiergarten dar. Dort musste er sich wegen Strafvereitelung im Amt, Verwahrungsbruch und Urkundenunterdrückung verantworten. Von Herbst 1993 bis Januar 1999 hat er in 16 Fällen Vorgänge mit Strafanzeigen gegen verdächtige Personen gar nicht bearbeitet oder später nicht an die Staatsanwaltschaft weitergegeben. Ein Teil der Fälle musste wegen Verjährung eingestellt werden, bei den anderen wurden die Ermittlungen wieder aufgenommen.

Vor der Richterin bestätigte Hartmut W., dass er immer häufiger Akten mit nach Hause nahm. „Ich wollte alles so gut machen, dass keine Akte zurückkommt“, sagte er. Und er, der zunächst auf dem Abschnitt 52 der Direktion 5 in erster Linie jugendliche Straftäter vernahm und später in der Ermittlungsgruppe Graffiti der Direktion 4 arbeitete, habe sich Zeit genommen für die Befragungen. „Ich wollte den Jugendlichen eine Chance geben, sie sollten nicht einfach eine Nummer sein.“ Der Polizeihauptmeister erzählte aus seiner eigenen Vergangenheit. Er sei in seiner Jugend nämlich auch beinahe auf die schiefe Bahn geraten. Aber Pädagogen hätten ihn davor bewahrt.

Weil der Staat in diesem Sinne so gut für ihn gesorgt habe, sei er später auch zur Polizei gegangen. Seine Vernehmungen dauerten länger als üblich. Seine Kollegen hätten sich darüber zwar amüsiert, schikaniert hätten sie ihn aber nicht, sagte der Angeklagte. „Als einmal von neun Kollegen nur sieben im Dienst waren, bin ich immer mehr ins Hintertreffen geraten.“ Da fing er an, die ersten Akten mit nach Hause zu nehmen. Sein Verzug wurde größer und größer. „Ich habe die Vorgänge dann nicht mehr bearbeitet, ich hatte eine Aversion“, erklärte der Polizeihauptmeister, der seit 1999 bei 50 Prozent der Bezüge vom Dienst suspendiert ist. Er habe in der Dienststelle nichts von seinen Problemen gesagt, weil er nicht als „schwach, als einer, der nichts kann“ gelten wollte. „So etwas hängt einem nämlich das ganze Leben lang an.“

Ein Gutachter sagte, Hartmut W. sei ein zwanghafter Mensch, habe ein geringes Selbstwertgefühl. Der Angeklagte habe trotz einer Kindheit in Heimen einen guten Schulabschluss geschafft. Doch auch als Erwachsener sei er ein einsamer Mensch geblieben. Der Umgang mit Jugendlichen sei für W. eine Ersatzfamilie geblieben. Dass man in der Behörde nicht auf seine Probleme aufmerksam wurde, lag offenbar an Desinteresse. „Man nahm ihn nicht für voll“, sagte der psychiatrische Sachverständige. Als ihm die Arbeit über den Kopf gewachsen sei, habe sich bei W. „so etwas wie eine Aktenphobie entwickelt“.

Wie der Gutachter ging das Gericht von einer verminderten Schuldfähigkeit aus. Die Richterin glaubte W., dass er wahllos Akten nahm und keine bestimmten Straftäter schützen wollte. Deshalb verurteilte sie den Beamten wegen Verwahrungsbruchs und Urkundenunterdrückung zu einer Strafe von zehn Monaten Haft auf Bewährungsstrafe. Zudem soll er eine Psychotherapie beginnen.

Kerstin Gehrke

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