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Berlin: Alfred B. J. Plaut (Geb. 1913)

Schuld nimmt jeder auf sich, irgendwann.

Wo auf der Landkarte unseres Ichs ist das Selbst verzeichnet, jener mysteriöse Ort, in dem alle Koordinaten unserer Persönlichkeit zusammenlaufen? Für viele scheint er unauffindbar, in der Kindheit, in der Jugend, das Leben wirkt in diesen unsicheren Zeiten des Werdens wie eine Abfolge vorläufiger Aufenthalte mit unbekanntem Reiseziel.

Alfred Plaut liebte Karten, er sammelte sie mit Leidenschaft, insbesondere jene, auf denen der Ort verzeichnet ist, der auf Erden unauffindbar scheint, das Paradies.

Dabei ist es eindeutig zu verorten, das Paradies, auf den Seychellen nämlich, nein, nicht im touristischen Sinn, tatsächlich. So glaubte zumindest der britische General Charles George Gordon aufgrund unbezweifelbarer Indizien und ließ eine entsprechende Karte anfertigen. Alfred Plaut widmete diesem viktorianischen General einiges Nachdenken, denn so erfolgreich Charles Gordon als Feldherr war, so trotzig beharrte er auf seinen kindlichen Hoffnungen, das Glück zu Lebzeiten zu finden, an einem sehr konkreten Ort – er fand sich da in einer Gesellschaft, die ihm als Repräsentanten des britischen Establishments eher peinlich sein musste, in der von Oscar Wilde: „Eine Karte der Welt, auf der Utopia nicht verzeichnet ist, lohnt nicht das Hinsehen“.

Die Inselsehnsucht trieb auch Alfred Plaut um: Wie Robinson Crusoe ganz bei sich selbst sein – und doch auf die Ankunft Freitags hoffen. Die Seele als eine Insel inmitten eines Ozeans wirrer Gefühle kartografieren, obwohl sie letztlich auf keiner Karte zu verzeichnen ist – wahre Orte sind das nie, so der Befund Herman Melvilles, auch er ein Ziehvater Alfred Plauts in seinem Werden zum Psychoanalytiker.

Worauf kommt es in der therapeutischen Arbeit an? Wünsche, Ängste, Leiden sind real, so real, dass sie schmerzen – aber spricht das wirklich dafür, sie zu verdrängen, oder gar zu entsorgen?

Die Vorstellung, nur von gesunden Menschen umgeben zu sein, die keinen Kummer kennen, ist nicht weit entfernt von einem Albtraum. Was wir sind, sind wir durch unsere Leiden, denn die sind unteilbar.

Die Psychoanalyse, so betonte Alfred Plaut, braucht den Erfolg, die Heilung ebenso wenig wie die Religion das Wunder. Gesundheit ist eine Fiktion, die Summe der Symptome ist letztlich nicht mehr und nicht weniger als unsere Individualität.

Er wusste, wovon er sprach, denn das Leben hatte ihn genau das gelehrt. Alfred Plaut wuchs in Düsseldorf auf. Der Vater kam krank aus dem Krieg zurück und starb bald darauf. Die Tante zog Alfred zum Leichnam, die Augen waren geschlossen. „Er ist im Himmel“, sagte sie.

Alfred hatte seine Zweifel. Er sah, wie seine Mutter zu kämpfen hatte, die Kinder großzuziehen. Er registrierte, wie feindlich die Welt für ihn, den Juden, wurde. Und emigrierte 1933 nach Südafrika – wo er sich unversehens dem „Herrenvolk“, nein, nicht zugehörig fühlte, aber sich wiederfand in einer Gesellschaft, die sich durch Apartheid definierte.

Jeder, der daran teilhatte, war schuldig. Auch das eine Erkenntnis, die ihn als Analytiker, der eigentlich als Mediziner begonnen hatte, nicht losließ. Schuld ist etwas, das unweigerlich jeder auf sich nimmt, irgendwann.

Alfred Plaut, nunmehr britischer Staatsbürger, ging nach London. Vierzig Jahre praktizierte er in England. 1986 kehrte er zurück nach Deutschland, um der Liebe und der Arbeit willen.

Bis weit über achtzig hat er Patienten gesehen, dann, als die Arbeit zu schwer fiel, begann er zu malen. Die Einsamkeit dessen, der keine Freunde aus der Jugendzeit mehr hat, der selbst den Tod des eigenen Kindes erleben musste, der mit wachem Geist den eigenen körperlichen Verfall erlebte – sie ist nicht mitteilbar.

Alfred Plaut war nicht religiös, aber er wollte in seinem Gebetsschal verbrannt werden. Ein eigenwilliger Wunsch, denn der jüdische Ritus sieht dergleichen nicht vor. Auf einem kleinen Friedhof in London fand er seine letzte Ruhe. In Deutschland hatte er ohnehin nicht für immer bleiben wollen. Gregor Eisenhauer

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