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Berlin: Algen im Bier

Functional Food nennt man durch Bakterien veränderte Lebensmittel. Ist das die Nahrung der Zukunft?

Eine alte Fabrik in Wedding. AEG hat hier die ersten U-Bahnen gebaut. Heute hat im dritten Stock die Firma Organobalance ihre Labore. 30 Biotechnologen, Biologen und Ingenieure, die Bakterienstämme züchten. Einer der Stämme bekämpfe Kariesbakterien, sagt die TU-Professorin Christine Lang, die die Firma vor zehn Jahren gegründet hat. In einem Versuch, bei dem die Mikroorganismen Rattenfutter beigemengt wurden, hatten die Tiere 40 Prozent weniger faule Zähne als die Tiere der Kontrollgruppe. Den Bakterienstamm, getrocknet als weißes Pulver, kann man auch in Nahrung für Menschen mischen: in Bonbons oder Joghurts, als biologische Zahnbürste.

Einen anderen Bakterienstamm hat Christine Lang vergangenen Monat an einen Schweizer Konzern verkauft. Der Stamm schalte Helicobacter-Bakterien aus, die die Magenschleimhaut angreifen, sagt sie. Die Schweizer suchen jetzt Lebensmittelfabrikanten, die die Bakterien ihren Produktrezepturen beimengen – etwa für Käse gegen Magengeschwüre.

Die weiß gekachelten Wände, die behandschuhten Laboranten, die von Milliarden Mikroorganismen bevölkerten Kühlschränke – die Vorstellung, dass ausgerechnet in diesem künstlichen Ambiente besonders gesunde Ingredienzen für Lebensmittel entstehen, ist gewöhnungsbedürftig. Gesundheitsbewusste Verbraucher sind der Überzeugung, dass Lebensmittel möglichst naturbelassen sein sollen. Doch weltweit forschen Wissenschaftler daran, Pflanzen schädliche Inhaltsstoffe zu entziehen oder gesunde herauszulösen, um andere Lebensmittel damit anzureichern. „Functional Food“ heißen diese Lebensmittel , die einen Nutzen für die Gesundheit haben sollen.

Mit probiotischen Bakterienkulturen angereicherter Joghurt, der die Abwehrkräfte fördern soll, steht schon seit fast zwei Jahrzehnten in den Supermarktregalen. Zu den Klassikern des Functional Food zählen außerdem mit Vitaminen A, C und E versetzte Fruchtsäfte und eine mit pflanzlichen Phytosterinen angereicherte Margarine, die den Cholesterinspiegel senkt. Doch gerade in den vergangenen Jahren sind darüber hinaus Produkte erfunden worden, deren Heilsversprechen fast zu schön klingen, um wahr zu sein: Schokolade gegen Akne, Marshmallows gegen Falten und Bier als Jungbrunnen. In Japan ist Marshmallows Collagen beigemischt. Das im Osten Brandenburgs gebraute „Anti-Aging-Bier“ ist unter anderem mit Blaualgen angereichert. „Unser erster Versuch schmeckte ein bisschen nach Aquariumwasser“, räumt Stefan Fritsche von der Klosterbrauerei Neuzelle ein. „Letztlich ist aber ein Bier entstanden, dessen Algenzusatz man nicht schmeckt.“

Nicht die Rezeptur ist für die Hersteller die größte Herausforderung, sondern die Health-Claim-Verordnung. Seit vier Jahren fordert die EU den wissenschaftlichen Beweis, dass die Produkte halten, was sie versprechen. Den Großteil der eingesandten Gesundheitsnützer hat die Behörde verboten.

Die Cholesterin senkende Margarine „Becel proaktiv“ des niederländisch-britischen Konzerns Unilever hat diese Prüfung bestanden. Auch die Vorsitzende des Verbandes der Ökotrophologen, Andrea Lambeck, sieht es als erwiesen an, dass die Margarine den Cholesterinspiegel um bis zu 15 Prozent senkt. Phytosterine verhinderten, dass Cholesterin in die Blutbahn gelangt. Doch genau diese Eigenschaft ist problematisch. Dann nämlich, wenn gesunde Menschen die Margarine essen. Fettlösliche Vitamine, die der Körper mit demselben Mechanismus wie das Cholesterin aufnimmt, würden ebenfalls größtenteils ausgeschieden, sagt Lambeck. Das ist das Dilemma funktioneller Lebensmittel: Sie müssen wirken, dürfen aber keine Nebenwirkungen haben, nicht einmal überdosiert oder bei Menschen, für die sie nicht gedacht sind.

Probiotische Joghurts wie „Actimel“ des französischen Konzerns Danone erklärt Andrea Lambeck für unbedenklich. Zahlreiche Studien hätten außerdem belegt, sagt sie, dass Actimel die Abwehrkräfte stärke. Die Essensprüfer von „Foodwatch“ sind dagegen der Ansicht, dass funktionelle Lebensmittel ihre größte Wirkung auf die Umsätze der Hersteller hätten. Für Lebensmittelkonzerne sei es schwierig, zu wachsen, sagt Foodwatch-Sprecher Martin Rücker, denn Menschen könnten nun mal nicht mehr essen. Functional Food ermögliche es den Unternehmen, neue Produkte zu einem höheren Preis zu vermarkten. „Wer sich ausgewogen ernährt“, sagt Rücker, „braucht diese Produkte nicht.“ Doch in einer immer dichter besiedelten Welt werden funktionelle Lebensmittel womöglich künftig notwendig sein, um Ressourcen zu schonen. So hat der US-Konzern Monsanto eine Sojabohne entwickelt, die die gesunden Omega-3-Fettsäuren enthält, die sonst nur in Seefisch vorkommen. In einem Feld dieser Sojaart von der Größe eines Fußballplatzes soll so viel Fischöl enthalten sein wie in 10 000 Portionen Lachs.

In einem Tank in Norwegen wächst Fleisch heran, für das kein Tier mehr getötet werden muss. In den norwegischen Labors für Nahrungsmitteltechnologie, Nofima, südlich von Oslo, wird aus einer einzigen Zelle aus der Lende eines Rindes dank einer Nährlösung in 50 Teilungszyklen eine Tonne Muskelfleisch. Zellbrei, der sich als Rohmasse für Wurst oder Pressfleisch für Burger eignet.

Viele deutsche Firmen, sagt Antje Preußker, wissenschaftliche Leiterin beim Spitzenverband der deutschen Lebensmittelwirtschaft, hätten die hohen Erwartungen, die sie noch vor 15 Jahren in funktionelle Lebensmittel setzten, heruntergeschraubt. Die Health- Claim-Verordnung fordert medizinische Studien von einer Größe, dass statistische Zufälle ausgeschlossen sind. Die können im Grunde nur die Konzerne zahlen, und die sind im Ausland ansässig.

Einer der Bakterienstämme aus dem kleinen Labor von Christine Lang hat es geschafft. In Kroatien ist seit April eine Zahncreme mit der probiotischen Kultur angereichert, die Kariesbakterien angreift. Die zeitaufwändige Prüfung der EU-Health-Claim-Wächter blieb Christine Langs erspart. Zahncreme fällt unter die Kosmetikverordnung.

 Barbara Nolte

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