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Berlin: Alle Neune: Hipster gehen kegeln

Von der Trinkerstube zum Szenetreff. Die „Kugelbahn“ im Soldiner Kiez hat neue Gäste – und ein paar alte.

Eins ist klar: Zufällig kommt man hier nicht vorbei, die Gegend hat ihren Ruf weg. Sozialer Brennpunkt, Ghetto, hohe Kriminalität. Das sind die Schlagworte, die einem spontan zum Soldiner Kiez in Gesundbrunnen einfallen. Doch neuerdings gibt es ausgerechnet hier einen Ort, der junges Feiervolk aus Kreuzberg, Friedrichshain und Neukölln anzieht. Zielstrebig steuert es einen Flachbau aus roten Klinkern an. Von Weitem sieht er aus wie ein in die Jahre gekommenes Vereinsheim, ein Treffpunkt, den Menschen diesseits der 60 eher meiden. Doch schon wenn man die Stufen zur Terrasse betritt und die rot gepunkteten Liegestühle neben dem Eingang sieht, ahnt man: Das hier ist kein Seniorentreff, keine normale Kneipe.

„Kugelbahn“ heißt der Laden in der Grüntaler Straße. Tatsächlich war er früher mal eine ordinäre Kegelstube. In regelmäßigen Abständen wechselten die Betreiber, aber nicht die Klientel – ältere Herren, die gern mehr Bier und Schnaps trinken, als ihnen guttut. Das hat sich seit vergangenem September geändert. Seit Uwe Effertz und Jessica Schmidt die Räume übernommen haben. Die beiden wohnen selbst im Kiez, und dass es in der Gegend kaum nette Kneipen oder Konzerträume gab, bedauerten sie sehr. Als sie eines Tages an der Kegelstube vorbeikamen und an der Tür ein handgeschriebener Zettel „Zu verpachten“ klebte, meldeten sie sich kurzerhand unter der angegebenen Telefonnummer. Wenige Tage später unterschrieben sie den Mietvertrag. „Uns war vorher nicht klar, ob das alles funktionieren würde“, sagt Jessica Schmidt. Ob sie mit ihrer Idee, mit ihrem Konzept überhaupt Erfolg haben würden. Ein weiterer Unsicherheitsfaktor: die alten Stammgäste. Tatsächlich beobachteten die den Umbau anfangs skeptisch. Als Erstes mussten die fiesen Polsterstühle aus den 80ern dran glauben, danach wurden die Plastiktische rausgeschmissen und Zwischenwände eingerissen. Erbarmungslos ausrangiert wurden auch die Spielautomaten und furchtbaren Lampen, wie man sie gelegentlich in Hafenkneipen sieht. Stattdessen besorgten Jessica Schmidt und Uwe Effertz gemütliche Sofas und Sessel im 60er-Jahre-Design, dekorierten die Räume mit Retro-Accessoires. Sehr zum Unverständnis der alten Stammgäste. Sofas in einer Kneipe – was soll der Unfug? Kommentare wie diesen nahmen die neuen Betreiber mit stoischem Gleichmut hin. Das einzige Zugeständnis an die alten Gäste: Der runde Holztisch rechts neben dem Eingang durfte bleiben. „Der steht unter Naturschutz“, sagt Uwe Effertz und lacht.

Die versöhnliche Geste verfehlte ihre Wirkung nicht. Einige Nörgler revidierten ihre Meinung später. „Schön, dass sich hier endlich mal was tut und dass immer mehr Leute kommen“, sagte einer anerkennend. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Existenz der Kugelbahn auch schon außerhalb Gesundbrunnens rumgesprochen. Nur daran, dass an der Theke jetzt Englisch gesprochen wird und Tannenzäpfle-Bier statt Schultheiß auf der Karte steht, müssen sich die Übriggebliebenen noch gewöhnen.

Außer montags ist die Kugelbahn täglich geöffnet, sonntags ab zehn Uhr bietet ein befreundeter Gastronom amerikanisches Frühstück an. Freitags finden auf der kleinen Bühne im Untergeschoss Konzerte statt und einmal im Monat steigt in Zusammenarbeit mit der Kolonie Wedding, einem Verbund von Kunstprojekträumen im Soldiner Kiez, eine Party. Um die Programmplanung und das Booking kümmert sich Jessica Schmidt. Anfangs schwebte der 29-Jährigen ein reiner Americana-Laden vor, zur Eröffnung spielten Doctor Voltage, die Rock’n’Roll-Band von Uwe Effertz, der zwischenzeitlich 13 Jahre in den USA gelebt hatte, 2007 aber wieder zurück nach Berlin gezogen war. Sich ausschließlich auf amerikanische Musik zu konzentrieren, davon sind Schmidt und Effertz – geschäftlich wie privat ein Paar – jedoch abgerückt. Neulich traten Automat auf, das neue Projekt des Einstürzende-Neubauten-Gitarristen Jochen Arbeit.

Ein Merkmal, das den Ort von anderen Szenetreffs unterscheidet, ist die Kegelbahn im Keller. Die Anlage ist über 50 Jahre alt, sie wurde kurz nach der Fertigstellung des Flachbaus eingebaut. Sie ist nicht nur wegen ihrer historischen Anmutung ein Kuriosum. Auch ihr Scherenbahn-Typus – vorne schmal, im Mitteilteil ausgehöhlt, hinten breiter – ist in Berlin eine echte Rarität. Für gewöhnlich wird in der Hauptstadt und ihrer Umgebung auf klassischen oder sogenannten Bohlebahnen gespielt. Eine alte Lady sei die Anlage, sagt Jessica Schmidt. Viel Wartung braucht sie nicht, aber wenn es denn mal sein muss, wie vor kurzem, als die Elektrik ausfiel, wird es schwierig. Spezialisten für die Reparatur solcher Anlagen gibt es nur noch wenige. Eine komplette Restaurierung würde der Bahn guttun, ist derzeit aber finanziell nicht drin – mehrere tausend Euro würde das kosten. „Es ist sowieso eher eine Spaßbahn“, sagt Uwe Effertz. Nur selbst zum Kegeln kommen der 48-Jährige und seine Mitstreiterin vor lauter Arbeit kaum noch.

Kugelbahn, Grüntaler Straße 51, Gesundbrunnen, Infos im Internet unter www.kugelbahn-wedding.com

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