zum Hauptinhalt

Berlin: Alle Signale standen neunzig Minuten auf Rot

BERLIN .Gelassen haben Berliner und Brandenburger gestern den ersten Eisenbahnerstreik seit sieben Jahren bewältigt.

BERLIN .Gelassen haben Berliner und Brandenburger gestern den ersten Eisenbahnerstreik seit sieben Jahren bewältigt.Wer es sich leisten konnte, saß die 90 Minuten Zwangspause einfach im Zug oder auf dem Bahnsteig ab - überwiegend ohne zu murren.Zwischen 6 Uhr und 7.30 Uhr blieben alle Fern- und Regionalzüge am Bahnsteig stehen.Etwa 30 000 Pendler und Reisende mußten sich neue Wege suchen; viele fuhren einfach früher oder später.S-Bahnen und Autobahnen waren nur wenig voller als üblich.

Der "Sprinter" sprintete von Ostbahnhof nur bis zum Zoo.Dort stand das Signal auf Rot - 95 Minuten lang.Die Fahrgäste des vollbesetzten Edel-ICE nach Frankfurt (Main) nahmen den Warnstreik der Lokführer gelassen - fast alle schliefen oder dösten.Statt nach Fahrplan um 5.58 Uhr bekam der ICE erst um 9.32 Uhr grünes Signallicht.Gemeinsam mit der Bahn hatten die Gewerkschafter den "spontanen" Streik so organisiert, daß kein Zug auf freier Strecke stand.Denn da wären die Kunden über die Gleise geflüchtet, das wollte man vermeiden.

Die Gewerkschaft der Lokführer hatte den Streik vor einigen Tagen angekündigt, ebenso spontan blieben dann auch die Fahrkartenschalter am Zoo an diesem Morgen geschlossen.Dafür spendierte die Bahn ihren Fahrgästen gratis Kaffee.

Die Fahrgäste, die aus dem Umland vor allem in die Stadt mußten, verteilten sich auf Autos und S-Bahnen - oder sie fuhren vorher oder hinterher am Streik vorbei.Die telefonische Bahn-Auskunft war keine Hilfe: Unter der "996633" hieß es noch gegen 6.30 Uhr, daß nur "15 Züge ausfallen oder zu spät seien".Die Polizei meldete erheblichen Verkehr nur auf der A 111 von Heiligensee bis zum Stadtring.Die S-Bahnen waren etwa 10 Prozent voller als sonst.Das Statistische Landesamt zählte 1997 etwa 105 000 Brandenburger, die täglich nach Berlin pendeln, umgekehrt sind es 48 000.Die meisten fahren mit dem Auto.

Die Reisenden, die raus aus der Stadt wollten, füllten langsam aber stetig die große Halle des Bahnhofs Zoo; gegen 7 Uhr früh war es dort so voll wie zu Weihnachten.Interessiert wurden die Abfahrts- und die Pünktlichkeitstafel in Augenschein genommen.Was an den Tafeln angeschlagen war, sah unerfreulich aus: "90 Minuten Verspätung" war die Standardnotiz bei den Abfahrten; und daß die Bahn am Wochenende auch ohne Streik nicht verspätungsfrei war, das verriet die Pünktlichkeitsanzeige: Nicht einmal 60 Prozent aller Fernzüge fuhren am 1.Mai nach Plan.

Lautes Protestgeschrei blieb aus, und auch auf den Bahnsteigen war die Stimmung gegen 6 Uhr früh friedlich, ab und zu warb die Bahn über Lautsprecher für Verständnis, nur die S-Bahnen ratterten in der Halle nebenan.Der Zugverkehr normalisierte sich jedoch nur langsam.Gegen 10 Uhr waren manche Züge auf die Minute pünktlich, viele hatten immer noch 90 Minuten Verspätung.Um 7.32 Uhr sprintete der "Sprinter" dann los nach Frankfurt, allerdings reiste leise Furcht mit.Denn auch am Main solle gestreikt werden, hieß es am Zoo.

JÖRN HASSELMANN

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false