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Tina Fidan (l.) und Harald Gaul (r.) und Ida Wehinger (m.) im Laden von „Lesen und Schreiben e.V.“.

© Thilo Rückeis

Alpha-Bündnis Neukölln: Der Mut, sich den Buchstaben zu stellen

Jeder siebte Erwachsene in Deutschland gilt als funktionaler Analphabet. Im Alpha-Bündnis Neukölln finden die Betroffenen Hilfe und die Hoffnung auf einen Neuanfang.

Tina Fidan sitzt am Tisch im Lerncafé. „In der Grundschule haben mein Zwillingsbruder und ich immer Plätze getauscht“, erzählt die resolute 54-Jährige, kurze graue Haare, rote Brille. Die Berliner Herkunft hört man ihr an. „Er war gut in Lesen und Schreiben, ich in Mathe - also haben wir die Aufgaben füreinander erledigt“, erzählt sie.

Doch auch bei eineiigen Zwillingen fällt das irgendwann auf: Mit acht Jahren kam Fidan in ein Heim für geistig behinderte Kinder und Jugendliche, besuchte fortan dort die Schule. Da hatte sie schon einiges durch: Seit dem Kleinkindalter lebten sie und ihr Bruder abwechselnd bei ihren Eltern und in verschiedenen Pflegefamilien und Heimen. „Ich wurde also schon mit acht Jahren gesellschaftlich abgeschrieben“, sagt Fidan heute.

Als sie 13 wird, darf sie zurück nach Hause, fortan aber nicht mehr die Schule im Heim besuchen. Es dauert ein Jahr, bis sie einen Platz an der Sonderschule erhält – ein Jahr, in dem sie sich vor allem zu Hause um die Mutter kümmert. In der neuen Schule kommt sie schwer zurecht: Die Klassen sind viel größer, der Stoff langweilt sie. Also spielt sie Karten in der letzten Reihe. Den Anschluss hat sie da schon verloren. Dass sie das Lesen und Schreiben wieder verlernt, fällt in der Schule niemandem auf. So kommt es, dass sie insgesamt zwölf Jahre zur Schule geht – und trotzdem nicht lesen und schreiben kann.

320.000 funktionale Analphabeten in Berlin

Wie Fidan geht es vielen Deutschen. Die 2011 veröffentlichte „leo. – Level-One Studie“ der Universität Hamburg erhob erstmals gesicherte Daten über den funktionalen Analphabetismus in Deutschland. Demnach sind 14,5 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 67 Jahren betroffen – das heißt, etwa jeder Siebte. In Berlin gibt es schätzungsweise 320.000 funktionale Analphabeten. Dabei bedeutet funktionaler Analphabetismus nicht, dass die Betroffenen gar nicht lesen und schreiben können, erklärt Ida Wehinger, Netzwerk-Koordinatorin vom Alpha-Bündnis Neukölln. „Die Betroffenen können meist einzelne Wörter oder Sätze erkennen, aber einen Text nicht sinnerfassend lesen“, erklärt sie.

Das Alpha-Bündnis Neukölln ist das älteste der acht Alpha-Bündnisse in Berlin. Dabei handelt es sich um Zusammenschlüsse von Akteuren, die sich für Grundbildung und Alphabetisierung von Erwachsenen einsetzen. Laut der „leo. – Level-One Studie“ leben in Neukölln über 28.000 Menschen, die kaum lesen und schreiben können. Weitere Alpha-Bündnisse gibt es in Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf, Mitte, Reinickendorf, Tempelhof-Schöneberg, Treptow-Köpenick und Spandau.

Tina Fidan verdeutlicht ihre Probleme an einem Wort: Sie könne zwar alle Buchstaben des Wortes „Tiefebene“ lesen, aber deutete es im Kopf lange als „Tiefe-bene“. Funktionale Analphabeten werden in gewisser Weise von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen: Bürokratische Formulare, Rechnungen oder Hinweisschilder werden zur fast unüberwindbaren Barriere. „Sie entwickeln eine sehr große Abhängigkeit zu mitwissenden Unterstützern“, erklärt Wehinger. Also zu Menschen, die von den Problemen wissen oder sie erahnen, und den Betroffenen etwa beim Ausfüllen von Anträgen und Formularen helfen.

Betroffene verstecken ihre Schwäche oft

Die Mehrheit der funktionalen Analphabeten entwickelt gezielt Strategien, um ihre Schwäche zu verbergen. Da ist dann etwa die Schrift zu klein, die Brille vergessen. Viele arbeiten, ohne dass ihre Chefs und ihr Umfeld je von ihrem funktionalen Analphabetismus erfahren. Bei anderen gibt es ein böses Erwachen: Harald Gaul beschreibt, wie seine Schwäche in der Vergangenheit stets zum Stigma wurde. Der 48-Jährige arbeitete mehrere Jahre in einer Fahrradwerkstatt.

Dort wurde jedoch zum Problem, dass er keine Rechnungen schreiben konnte. Später bediente er Maschinen für eine Zeitarbeitsfirma, aber: „Als der Chef erfuhr, dass ich nicht richtig lesen konnte, war ich sofort weg“, erzählt er. Auch Fidan machte eine Ausbildung zur Altenpflegehelferin, bestand die Abschlussprüfungen – mündlich und praktisch – mit eins plus. Übernommen wurde sie trotzdem nicht: Sie konnte die Protokolle der Kollegen nicht lesen, keine eigenen Dokumentationen schreiben.

Scham ist nach wie vor ein großes Problem: Viele funktionale Analphabeten isolieren sich eher, als ihre Schwäche zu offenbaren. Sie vermeiden etwa Fortbildungen und kündigen im Zweifelsfall vielleicht sogar den Job, damit niemandem ihre Schwäche auffällt.

Der erste Schritt ist schwer

Gaul hatte schon in der Schule Probleme, ging oft einfach nicht hin – und wenn er da war, wurschtelte er sich irgendwie durch. Dabei half ihm, dass Lehrer seine Schwäche erkannten und ihn etwa beim Vorlesen nicht aufriefen. Gauls Fall zeigt daher auch, dass das Schulsystem nicht in der Lage ist, alle Kinder aufzufangen. 2011 begann er dann, schreiben zu lernen. Zuvor wollte ihn ein Sachbearbeiter des Jobcenters zur Arbeit in eine Behindertenwerkstatt schicken. Gaul sah sich gezwungen, freiwillig einen psychologischen Test zu machen. Und entschied: Jetzt muss das was werden mit den Buchstaben.

„Dabei ist nichts schwieriger, als einmal über die Schwelle zu treten“, sagt auch Tina Fidan. Doch auch danach wird nicht alles leichter. „Die ersten Jahre konnte ich mir gar nichts merken“, beschreibt sie. Erst nach mehreren Jahren begann sie, neue Dinge zu verstehen. Auch das Lernen musste sie erst wieder lernen. Das durchzuhalten sei alles andere als einfach, erinnern sich Gaul und Fidan. Dabei helfe die Gemeinschaft der Lernenden, aber auch das Gefühl, sich endlich ein bisschen besser in der Gesellschaft zurechtzufinden.

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