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Alzheimer-Erkrankung: Wenn sich das Vergessen breit macht

Zu Hause leben trotz Alzheimer – das geht. Weil Ehrenamtliche wie Alexander Noack helfen. Der Altenpfleger betreut ein Ehepaar in dessen Wohnung und leistet manchmal detektivische Arbeit - wenn zum Beispiel der Schlüssel unter der Matratze steckt.

„Wer sind Sie?“, fragt der alte Mann jedes Mal, wenn Alexander Noack vor der Wohnungstür steht: „Ich lasse keine Fremden herein!“ – „Aber ich bin kein Fremder, ich komme jedes Wochenende, um mit Ihnen und Ihrer Frau Kaffee zu trinken und spazieren zu gehen.“ So recht glaubt der alte Mann seinem Besucher noch nicht, lässt ihn aber herein. Später, als Alexander Noack dem Ehepaar Kaffee und Kuchen serviert, plauschen sie aber vertrauensvoll mit ihm – über alte Musik, über ihre Kinder, über alte Zeiten. Daran können sich beide noch gut erinnern, nur eben nicht daran, was vor einer Stunde war.

Alexander Noack ist einer von momentan 35 Ehrenamtlichen der Alzheimer-Gesellschaft Berlin, die regelmäßig stundenweise die 50 Klienten der Gesellschaft in ihrer häuslichen Umgebung betreuen. Dazu wurde 1990 das Projekt Betreuungsbörse eingerichtet, das bis heute erfolgreich Alzheimerkranke und ihre Familien durch die Vermittlung ehrenamtlicher Helfer unterstützt. Alexander Noack hat zurzeit zwei Klienten, die er regelmäßig betreut, eine ältere Dame und das Ehepaar, das er Samstag und Sonntag für jeweils drei Stunden besucht.

Zwar kümmert sich täglich eine Frau um den Haushalt, und ein ambulanter Pflegedienst ist für Grundpflege und medizinische Versorgung engagiert, doch die Leistungen sind sehr teuer und die Mitarbeiter meist überlastet, so dass sehr wenig Zeit für die persönliche Ansprache bleibt. An dieser Stelle beginnt Alexander Noacks Aufgabengebiet. „Ich bin dazu da, um mich mit ihnen zu beschäftigen“, sagt der lustig und jugendlich wirkende 33-Jährige. Beschäftigung, das kann Gedächtnistraining sein, Lieder singen, aus der Zeitung vorlesen, spazieren gehen oder eben Gespräche führen. „Dafür braucht man Einfühlungsvermögen, man muss wissen, wie diese Menschen ticken, und für ihre auf den ersten Blick manchmal unverständlichen Handlungen Verständnis zeigen.“

Diese Einstellung kommt ihm zugute, wenn er die am Vortag zum Trocknen aufgehängte Wäsche einsammeln muss, die das Ehepaar sorgfältig in der gesamten Wohnung verteilt hat. Oder auch die Zeitungen der vergangenen zwei Wochen. „Manchmal fühle ich mich wie ein Detektiv, wenn ich wieder etwas suchen und ihre Verstecke aufspüren muss.“ Oft findet sich der Wohnungsschlüssel unter der Matratze im Schlafzimmer, und die Hörgeräte lagen schon mal in der Waschmaschine – die zum Glück nicht angestellt worden war.

Es ist nicht einfach, ein Leben so verblühen zu sehen. Gestandene Menschen, die im Leben einiges durchgemacht und auch erreicht haben, sind plötzlich hilflos und vor allem durcheinander. Ihre Welt hat nun eine andere Ordnung. Früher haben beide gearbeitet und Kinder großgezogen, heute sind sie selbst hilfebedürftig. Ohne Hoffnung, dass es besser wird. Zur Belastung für die Angehörigen, die ihre Verwandten zu pflegen und zu versorgen haben, kommt der Schmerz über den Verfall ihrer Lieben.

Dies alles werde in unserer Gesellschaft häufig vergessen. Kaum jemand spreche davon, dass auch für Angehörige Möglichkeiten zum Abschalten und zur Erholung geschaffen werden müssen. „Deshalb stehen bei der Alzheimer-Gesellschaft die Angehörigen im Vordergrund“, betont Christa Matter, Leiterin der Geschäftsstelle, die seit Jahren selbst eine Angehörigengruppe leitet. „Die Betreuung der Betroffenen ist ebenso wichtig wie die Entlastung der Angehörigen“, sagt die Diplom-Psychologin. Nur wer Zeit zum Durchatmen hat, kann auch wieder Kraft tanken. Genau dies möchte die Alzheimer-Gesellschaft den Angehörigen ermöglichen.

Hannelore Reinhart ist die Tochter des Ehepaares, das Alexander Noack betreut. Sie lebt nicht in Berlin und ist auf die Arbeit der Ehrenamtlichen angewiesen – ebenso wie jene Angehörigen, die mit Kranken zusammenwohnen, ohne räumliche Distanz, die einfach mal zwei Stunden einkaufen oder zum Friseur gehen möchten. Für sie alle erleichtert die Arbeit der Alzheimer-Gesellschaft ihren Alltag, sie können ruhigen Gewissens mal kurz abschalten. „Es ist gut zu wissen, dass da jemand ist, der sich ergänzend um meine Eltern kümmert“, sagt Hannelore Reinhart. Sie empfindet die Unterstützung als sehr hilfreich, „da es hier eine viel persönlichere Betreuung als normal gibt.“

Die ehrenamtlichen Betreuer sind ausschließlich für die persönliche Betreuung zuständig, nicht für hauswirtschaftliche oder grundpflegerische Tätigkeiten – das ist von der Alzheimer-Gesellschaft ausdrücklich festgelegt, damit die Ehrenamtlichen nicht ausgenutzt werden. Doch natürlich sind die Aufgaben nicht sauber voneinander zu trennen. Kann sich der Mann nicht auf die Beschäftigung einlassen, weil er eine frische Windel benötigt, oder ist er nicht rasiert, handelt Alexander Noack, auch wenn diese Dinge nicht zu seinem Aufgabengebiet zählen. „Er soll sich wohlfühlen und auf meine Beschäftigung konzentrieren können, sonst bin ich doch ganz umsonst gekommen.“ Also keineswegs Dienst nach Vorschrift, doch davon kann bei Alexander Noack, der sich nicht nur in seiner Freizeit um Kranke kümmert, ohnehin keine Rede sein.

Ist er nicht schon genug belastet durch seine berufsbegleitende Ausbildung zum Altenpfleger und durch seine Arbeit in einem Pflegeheim mit Demenzkranken? „Meine Motivation ist es, sie zum Lächeln zu bringen und ihnen nicht das Gefühl zu geben, dass sie anders sind. Außerdem freue ich mich darüber, wenn sie mich wiedererkennen. Der Mann sagt manchmal schon, wenn ich nach kurzer Abwesenheit zurück ins Zimmer komme: ,Ach, da bist du ja wieder!‘, für solche Momente gehe ich dorthin, und sie geben mir Kraft.“

Kraft, die brauchen auch die Angehörigen der zurzeit 50 000 an Demenz oder Alzheimer erkrankten Berliner, bei deren Betreuung die Alzheimer-Gesellschaft hilfreiche Dienste leisten kann. Jeder Betroffene hat die Möglichkeit, diese Unterstützung in Anspruch nehmen. Haben die Erkrankten eine Pflegestufe und wohnen in ihrer eigenen Wohnung, greift das Pflegeleistungsergänzungsgesetz, so dass die Angehörigen einen Teil der Betreuungskosten zurückerstattet bekommen. Dies ist in stationären Einrichtungen wie Heimen nicht möglich. Neben der Betreuungsbörse bietet die Alzheimer-Gesellschaft mit Sitz in der Friedrichstraße auch Betreuungsgruppen (Mitte, Weißensee, Pankow) sowie Angehörigengruppen (Kreuzberg, Wilmersdorf, Treptow-Köpenick) an, in denen sich Betroffene austauschen können. Jeder Interessierte kann sich dort hinwenden.

Ehrenamtlich tätig werden kann jeder, „zurzeit haben wir viele aus dem Altenpflegebereich, ehemals pflegende Angehörige, aber auch Studenten“, präzisiert Christa Matter. Wichtig seien bei der Auswahl vor allem der persönliche Eindruck sowie die Motivation. Nach einer Schulung, in der die wichtigsten Inhalte über die Krankheit und der Umgang mit ihr gelehrt werden, kann jeder in die ehrenamtliche Betreuung starten.

Zum Anfang des Jahres 2008 haben der Senat und die Pflegekassen der Alzheimer-Gesellschaft die Fördermittel gekürzt. Zwar tragen die Ehrenamtlichen einen Vorteil davon, da sich durch die neue pauschalierte Abrechnung der Einsätze für sie eine höhere Aufwandsentschädigung ergibt, doch ist noch nicht klar, ob die Angehörigen einen Nachteil durch die neue Berechnungsgrundlage haben werden. Immerhin macht die Bundesregierung Hoffnung, dass für häusliche Betreuungsleistungen mehr Geld als bisher rückerstattet werden soll.

Bleibt nur noch zu klären, was Alexander Noack macht, falls der alte Mann ihn nicht erkennt und nicht hereinlassen möchte. „Ich fange einfach an zu singen: ,Komm Se mal rüber zu Schmidt seiner Frau, Schmidt seine Alte hat ’ne eiskalte, eiskalte Weiße im Keller zu stehen.‘ Dann stimmt er sogleich ein und lässt mich ohne Weiteres herein.“

Kontakt: www.alzheimer-berlin.de

Julia Muschner

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