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Vor diesem Haus in Friedrichshain spielten die Kinder, als sie plötzlich aus dem 2. Stock beschossen wurden.

© Sandra Dassler

Am Tatort in Berlin-Friedrichshain: "Wer schießt denn auf ein Kind?"

Ein Familienvater hat gestanden, aus seiner Wohnung heraus auf einen Neunjährigen geschossen haben. Der Junge erlitt eine schwere Bauchverletzung. Die Bewohner des Hochhauses am Ostbahnhof sind entsetzt. Über die Tat. Und ihren Nachbarn. Ein Besuch am Tatort.

Von Sandra Dassler

„Es hätte auch mein Kind treffen können“, sagt Maria (Name geändert). Sie sitzt mit einem Baby auf dem Arm in ihrer gemütlich eingerichteten Wohnung in einem Hochhaus an der Straße der Pariser Kommune in Friedrichshain. Ihr Zweitältester gehörte zu den Kindern, die am Donnerstagabend vor dem Haus spielten, als ein Schuss fiel. Er traf den neunjährigen Sohn von Marias Nachbarin in den Bauch.

Der Junge habe sehr viel Glück gehabt, sagt eine Polizeisprecherin am Freitag. Er sei noch am Donnerstagabend operiert worden und ist außer Lebensgefahr. Es hätte auch anders kommen können, wenn der Schütze das Kind an Kopf oder Hals getroffen hätte.

Der Schütze ist nach jetzigem Ermittlungsstand ein 47-jähriger Familienvater, der im selben Haus wie Maria wohnt. Die Kinder hatten den Polizisten sagen können, aus welchem Fenster der Schuss abgegeben worden war, die Polizei fand dort ein Luftgewehr und nahm alle in der Wohnung Anwesenden mit.

Am Tag darauf gab der 47-Jährige an, dass er geschossen habe. Ob gezielt oder nicht, ließ er ebenso offen wie das Motiv. Er wurde am Freitagabend einem Haftrichter vorgeführt, anschließend aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Offenbar sah der Richter keine Haftgründe, also weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr, wie ein Sprecher der Staatsanwaltschaft dem Tagesspiegel sagte. Die 45-jährige Ehefrau sowie drei der Söhne im Alter von 16, 19 und 22 Jahren wurden auch noch am Freitag freigelassen, genauso wie ein weiterer 22-Jähriger, der offenbar bei der aus Polen stammenden Familie zu Besuch war. Unter den Festgenommenen war auch die 13-jährige Tochter, die von der Polizei dem Kindernotdienst übergeben wurde.

„Wir kennen hier alle die Familie“, sagt Maria, „bisher gab es nie Probleme. Aber jetzt haben viele Angst um ihre Kinder.“ Das erzählen auch andere Frauen, die am Freitag vor dem Haus an der Ecke Am Wriezener Bahnhof Müll und Zigarettenkippen zusammenkehren. Großer Hausputz ist angesagt, ein junger Mann streicht die graue Fassade bunt. Er stamme aus Bukarest, erzählt er, sei Rumäne und Roma wie die meisten hier.

Keiner kann sich eine rassistische Tat vorstellen

Wahrscheinlich deshalb kursierten am Freitag im Internet schon Gerüchte, es könnte sich um eine rassistische Tat gehandelt haben. Das kann sich hier keiner vorstellen. Ebenso wenig wie die Vermutung, dass der Schuss aus dem Fenster der polnischen Familie gezielt abgegeben wurde. „Wer schießt denn auf ein Kind?“, fragt eine Frau im gelben Kopftuch: „Wahrscheinlich haben die was getrunken und wussten nicht mehr, was sie taten.“ Die Umstehenden nicken. „Die sind oft betrunken oder rauchen irgendwas“, sagt ein junger Mann: „Aber so etwas ist noch nie passiert.“

Die Polizei hat bei allen sechs Festgenommenen Alkoholtests veranlasst, das Ergebnis lag am Freitag noch nicht vor. Fest steht aber, dass es am Donnerstagabend in der Wohnung sehr laut war. „Da wurde eine Party gefeiert“, sagt ein Mitarbeiter der Hausverwaltung. „Wir haben jedenfalls gegen 18 Uhr an der Tür geklingelt und gebeten, die Musik etwas leiser zu machen. Die jungen Leute, die wir in der Wohnung sahen, haben das auch sofort getan.“ Dass etwa eine Stunde später ein Schuss abgegeben wurde, hat der Mitarbeiter erst am Freitagmorgen erfahren.

Die meisten Mieter wohnen schon länger im Haus

„Wir werden mit allen reden“, sagt er. „Bisher gab es hier keine Probleme. Die üblichen kleinen Nachbarschaftsstreitigkeiten ja, aber nicht so etwas.“ Die meisten Mieter im Hochhaus, das nur ein paar hundert Meter vom Ostbahnhof entfernt steht, seien bereits länger hier, erzählt er. Die Männer würden arbeiten, die Frauen kümmerten sich um die kleinen Kinder. Die größeren gingen zur Schule, regelmäßig und immer sauber gekleidet. Die Miete würde pünktlich bezahlt.

Das Fenster, aus dem der Schuss kam, liegt zur Straße der Pariser Kommune, die tagsüber und auch abends von Fahrzeugen und Fußgängern stark frequentiert ist. „So gegen 19 Uhr bin ich da am Donnerstag auch langgefahren“, erzählt die Mitarbeiterin vom Mrs.Sporty-Fitnesszentrum. Ebenso wie die Chefin der Trattoria La Terrazza kann sie nichts Negatives über die Hochhausbewohner nebenan sagen. Klar hätten die Kinder mal ein paar Werbe-Luftballons platzen lassen, aber welche Kinder täten das nicht. Alkohol und andere Drogen seien bei den meisten Familien jedenfalls kein Thema.

„Wir dürfen das schon wegen unseres Glaubens nicht“, sagt Maria. Und erklärt, dass sie wie viele Roma-Familien hier zur Pentecostal-Kirche (englisch für Pfingstbewegung) gehören. Ihr ältester Sohn übersetzt eifrig. Er ist gerade 16 geworden, will Schauspieler werden und berichtet begeistert von seiner Schule, den tollen Lehrern und Freunden. Überhaupt sei Berlin viel besser als Bukarest. Aber der Schuss vom Donnerstagabend habe auch ihn schockiert, sagt er: „Mein kleiner Bruder hätte sterben können. Und er will doch so gern einmal ein großer Sänger werden.“

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