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Jacqueline Becker hat manchmal sechs, manchal 35 Termine an einem Tag.

© Mike Wolff

Ambulante Pflege: Unterwegs auf Adrenalin

Verbände wechseln, Blutzucker messen – und ständig klingelt das Handy: So sieht der Alltag in der ambulanten Pflege aus. Wer hier arbeitet, darf sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lassen. Jacqueline Becker ist mit Leib und Seele dabei. Wir begleiten sie für einen Tag.

Donnerstagnachmittag, im Ambulanten Pflegezentrum Spandau herrscht reger Betrieb. Junge und ältere Menschen geben sich die Klinke in die Hand. Jacqueline Becker misst gerade den Blutdruck eines Patienten, der ohne Anmeldung aufgetaucht ist. Becker leitet das Zentrum, eine von neun ambulanten Pflegestationen, die die Renafan GmbH in Berlin betreibt. Bundesweit betreut der Dienstleister 6 000 Alte, Pflegebedürftige und Behinderte. Eigentlich müsste Becker sich langsam auf den Weg machen. Eine ganze Reihe Patienten wartet auf ihren Hausbesuch. Sechs sind es heute noch, und es ist schon Nachmittag.

Sechs Termine sind nicht besonders viel. Es können auch mal 35 sein. Trotz der vermeintlich wenigen Termine ist der Zeitplan heute eng gefasst. Zeit zum Trödeln hat Becker nicht. Gegen 17.30 Uhr steigt sie ins Auto. Kaum ist sie losgefahren, klingelt das Handy. Ein krebskranker Patient ist besorgt, weil sein Inhalationsgerät nicht mehr funktioniert. Ein neues Gerät muss her. Drei Anrufe und ein paar Stresshormonschübe später kann Becker weiterfahren.

Seit mehr als dreißig Jahren arbeitet sie im Pflegebereich. Ihre Karriere begann mit einer Ausbildung zur Krankenschwester. Bevor sie in die Ambulanz wechselte, arbeitete sie viele Jahre im Krankenhaus, pflegte Kinder, die an der unheilbaren Erbkrankheit Mukoviszidose leiden. Bei Renafan ist sie seit 2014. „Ich brauchte diese Veränderungen, um mich weiterzuentwickeln“, sagt sie rückblickend. Seit einem Jahr hat sie die Regionalleitung der Ambulanten Pflege Berlin-West inne und trägt damit die Verantwortung für die Zentren in Spandau und Charlottenburg. Das klingt nach einem Bürojob. Doch sie ist nach wie vor täglich selbst als Pflegerin unterwegs und besucht Patienten in Spandau.

Nach 20 Minuten muss sie weiter

Als Erstes besucht sie Familie Soliman. Die Begrüßung fällt herzlich aus, Jacqueline Becker und Frau Soliman kennen sich lange, duzen einander. Seit 20 Jahren kümmert sich Frau Soliman bereits zu Hause um ihren Sohn. Er leidet unter dem sogenannten apallischen Syndrom. Reize von außen nimmt sein Körper zwar wahr, sie werden jedoch nicht weitergeleitet und verarbeitet. Deshalb kann er nicht reagieren. Über einen Schlauch in der Luftröhre wird er beatmet. Ermüdet wirkt seine Mutter trotz der erheblichen Belastung nicht. Ganz im Gegenteil: Sie scheint eine ganz besondere Beziehung zu ihrem Sohn aufgebaut zu haben, den sie liebevoll „Moppy“ nennt.

Alle drei Monate kontrolliert der Pflegedienst seinen Zustand: wie es ihm geht, ob es Komplikationen gibt, wie die Situation der Familie ist und ob sie Hilfe von außen benötigt. Bis jetzt lehnt Frau Soliman dankend ab. Unter einer Decke und dem Schutz zahlreicher Kuscheltiere sitzt ihr 20-jähriger Sohn bequem auf dem Sofa. Jacqueline Becker schaut sich alles genau an. Sie hat nichts zu beanstanden. Der Zustand des jungen Mannes ist gut. Es gibt viel Lob für die Pflege der Mutter. Länger plaudern können die beiden jedoch nicht. Nach 20 Minuten muss Jacqueline Becker weiter.

Die nächste Patientin erwartet sie in einem Heim für betreutes Wohnen. Frau Hupatz, eine ältere Dame, öffnet die Tür. Eigentlich war Becker zu ihr gekommen, um die Kompressionsstrümpfe zu lösen, die sie wegen Herzschwäche tragen muss. Weil ihre Beine aber enorm angeschwollen sind, überprüft die Pflegerin vorsorglich auch die Medikation. Frau Hupatz hat schon seit einigen Tagen nicht die verschriebene Dosis eingehalten und zu wenige Tabletten genommen. Kein Wunder, dass die Wirkung ausbleibt. Als sie ihr Versäumnis bemerkt, ist sie ziemlich niedergeschlagen, Jacqueline Becker ist nun als Seelsorgerin gefragt. Die Zeit drängt bereits, durch Frau Hupatz’ unerwartete Beschwerden verschiebt sich der Zeitplan ein wenig. „Das ist Alltag in der Pflege“, sagt Becker beiläufig. Wer mit kurzfristigen Planänderungen nicht zurechtkommt, wird an diesem Beruf keine Freude haben. Ein kurzer Blick in den Plan, und weiter geht’s. Becker besucht einen Patienten, der vor ein paar Tagen aus dem Rollstuhl stürzte und sich am Knie verletzt hat. Sie wechselt den Verband. Anfangs hatte sich die Wunde entzündet, doch nun verläuft die Heilung zum Glück nach Plan.

Überstunden lassen sich bei diesem Zeitplan gar nicht vermeiden

Oft bleiben nur wenige Minuten pro Besuch.
Oft bleiben nur wenige Minuten pro Besuch.

© Mike Wolff

Nächster Stopp: Becker muss erneut die Beine einer Patientin überprüfen. Medikamente und Kompressionsstrümpfe zeigen die gewünschte Wirkung, Becker ist zufrieden. Weil in der Zwischenzeit immer wieder besorgte Patienten auf dem Handy anrufen, hinkt sie ihrem Zeitplan allmählich deutlich hinterher. Die Zeitkorridore sind so knapp bemessen, dass sich Überstunden gar nicht vermeiden lassen. Noch stehen zwei Termine aus. Becker klingelt beim Ehepaar Bohn. Herr Bohn pflegt seine Frau zu Hause, macht den Großteil der Arbeit ganz allein. „Ich wollte keine zweite Person im Haushalt. Das wäre nicht gut gegangen“, sagt er und lacht. „Solange ich lebe, mache ich das selbst.“

Herr Bohn hat seine eigenen Vorstellungen, seine strikte Art hat die Zusammenarbeit vor allem anfangs erschwert. „Ein Vierteljahr herrschte hier fast Krieg“, sagt Becker. Inzwischen gibt sich Herr Bohn geläutert. „Auf der einen Seite die Fachkraft“, sagt er, „auf der anderen ich als Laie – da hat man eben eine andere Sicht auf die Dinge.“ Anfangs habe man erst einmal klären müssen, wer welche Aufgaben übernimmt. Mittlerweile sind alle Streitigkeiten beigelegt. Zweimal täglich kommt ein Pfleger oder eine Pflegerin vorbei, um Frau Bohn Insulin zu spritzen, einmal in der Woche wird sie von ihrer Lieblingspflegerin gebadet. Den Rest übernimmt Herr Bohn. Solange er kann.

Nach einer Operation am Herzen verbrachte Frau Bohn einige Tage auf der Intensivstation. Ihr Zustand war schlecht, die Überlebenschancen minimal. Zweimal lag sie im Koma. Dass sie heute neben ihrem Mann auf der Couch sitzt, grenzt für ihn an ein Wunder. Viel bewegen kann sie sich nicht mehr, die meiste Zeit sitzt oder liegt sie. „Ihr Eigenantrieb ist zu gering“, sagt Herr Bohn. Nur selten will sie mit ihm aus dem Haus gehen. Und das macht ihrem emsigen Mann merklich zu schaffen, er sorgt sich. Was, wenn er einmal nicht mehr da ist? Er hat Angst davor, Gesundheit und Pflege seiner Frau aus den Händen zu geben. Heute sind ihre Zuckerwerte nicht gut. Den Orangensaft schiebt Jacqueline Becker zur Seite. „Damit ist für heute erst mal Schluss“, sagt sie augenzwinkernd. Das Telefon klingelt. Die letzte Patientin des Abends wird ungeduldig. Becker ist spät dran.

Versorgung über den Port: ein sehr spezieller Fall

Bianca Breher ist die letzte Patientin für heute. Es ist nach 22 Uhr. Die junge Frau hat sich in ihre Decke gekuschelt. Der Fernseher läuft, damit sie nicht einschläft. Breher ist ein ziemlich seltener Fall in der ambulanten Pflege. Sie muss über einen Port mit Nahrung versorgt werden. Weil ihr Dünndarm keine Darmzotten hat, kann ihr Körper auf normalem Weg keine Nährstoffe aufnehmen. Parenteral ernährt zu werden, bedeutet: Die Nährstoffe gelangen per Infusion direkt ins Blut, der Darmtrakt wird umgangen. In einer Operation bekam sie einen Kunststoffkatheter in die obere Hohlvene unter dem rechten Schlüsselbein eingeführt. Auf der anderen Seite mündet dieser Schlauch in eine Kapsel unter der Haut, die von einer Membran umhüllt ist. Um die Nährlösung zuzuführen, muss man die Membran nur noch mit einer Infusionsnadel einstechen.

Die meisten ambulanten Pflegedienste bieten eine solche Portversorgung allerdings nicht an. Denn hierfür wird speziell ausgebildetes Personal benötigt. „27 Anbieter haben meine Behandlung abgelehnt“, sagt Bianca Breher. Nun hatte sie die Wahl: entweder selber machen oder jede Nacht viele Stunden im Krankenhaus verbringen. Beides kam nicht mehr infrage. Umso glücklicher ist sie nun, dass sie nach langer Suche am Ende doch einen Anbieter fand, der die Portversorgung übernahm. „Frau Becker hat meine Verzweiflung bemerkt“, sagt Bianca Breher. Drei Monate betrug die Probezeit. „Wir mussten schauen, ob es so klappt“, sagt die Pflegerin. Auch bei Renafan stand die Portversorgung eigentlich nicht im Programm. Während der Probezeit war Jacqueline Becker bei jeder neuen Infusion dabei. Mittlerweile haben andere Kollegen die Portversorgung erlernt.

Die gesundheitliche Lage von Bianca Breher hat sich im Lauf der Behandlung deutlich verbessert. Viele Jahre sei sie eigentlich nicht arbeitsfähig gewesen. Sie ging trotzdem oftmals an ihre körperliche Grenze und noch darüber hinaus. Inzwischen kennt sie ihre Grenzen besser, sie hat aus Fehlern gelernt. Heute arbeitet sie neben der Rente auf 450-Euro-Basis – und zwar bei Renafan, als Hauswirtschaftshilfe im Team von Jacqueline Becker. Ein kleines hauseigenes Märchen.

Kurz nach 23 Uhr ist Beckers Tour beendet, die Pflegerin ist erschöpft. Es gibt stressfreiere Wege, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Doch noch auf der Rückfahrt erzählt sie mit leuchtenden Augen von berührenden Bildern und Karten, die sie von Patienten zu Weihnachten und Ostern zugeschickt bekommt. Sie mag ihre Patienten, und ihre offene, herzliche Art kommt gut an. „Hier kann ich mein Helfersyndrom voll ausleben“, sagt Becker. Die Zuwendung, die sie ihren Patienten entgegenbringt, erhält sie vielfach zurück. Das trägt sie über die Widrigkeiten des Jobs hinweg.

In Berlin gibt es rund 570 ambulante Pflegedienste. Die AOK Nordost bietet unter pflege-navigator.de einen guten Überblick über die Anbieter, ebenso der VDEK (pflegelotse. de) und die BKK (bkk-pflegefinder.de). Weitere interessante Artikel zu den Themen Pflegeberatung, Pflegeheime, Finanzierung, altersgerechtes Wohnen und Sterbebegleitung sowie ein ausführliches Verzeichnis von Pflegeheimen in Berlin und im Umland finden Sie im Magazin „Tagesspiegel Pflege Berlin 2017/2018“. Das Magazin kostet 12,80 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021-520, sowie im Zeitschriftenhandel.

Von Hauke Hohensee

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