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Berlin: Amokläufer kann sich nicht an die Tat erinnern

17-Jähriger steht wegen 37-fachen Mordversuchs bei der Eröffnung des Hauptbahnhofs vor Gericht

Ruhig und konzentriert sitze der 17-Jährige auf der Anklagebank, sagt ein Zeuge. Ein anderer fühlt sich an einen Theaterbesucher erinnert, der aufmerksam, aber distanziert das Geschehen verfolge. Frank P. (Name geändert) wirke wie ein „ganz normaler Teenager“, sagt ein Anwalt der Nebenklage. Doch er hat Angst und Schrecken verbreitet: Frank P. ist der Amokläufer, der bei der Eröffnung des Hauptbahnhofs im Mai vergangenen Jahres wahllos auf Passanten eingestochen hat. Gestern begann der Prozess gegen ihn – ohne Öffentlichkeit.

Die Anklage lautet auf Mordversuch in 37 Fällen sowie sechsfache Körperverletzung. Taten, die Frank P. innerhalb von etwa 25 Minuten begangen haben soll. Im Saal 817 äußerte er sich nun zu den Vorwürfen – und war nach knapp 15 Minuten bereits am Ende. Sein Mandant könne sich an das, was er angerichtet haben soll, nicht erinnern, erklärt sein Verteidiger. Rechtsanwalt Herbert Hedrich kündigte an, dass sich Frank P. bei den Opfern entschuldigen werde.

Es ging am 26. Mai vorigen Jahres auf Mitternacht zu, als der damals 16-jährige Schüler aus Neukölln den Ermittlungen zufolge ausrastete. Boxend und schlagend soll sich Frank P. zunächst durch das Gedränge gekämpft haben. Das war kurz nach der Eröffnungsfeier, zu der mehr als 500 000 Besucher aufs Areal am Spreebogen gekommen waren. Dann zog Frank P. ein Klappmesser aus der Hosentasche. Auf einer etwa einen Kilometer langen Strecke soll er wahllos zugestochen haben. 31 Menschen erlitten Schnitt- oder Stichverletzungen. Bei drei Passanten drang das Messer nicht durch die Kleidung, bei einer Frau prallte es an einem Kettenanhänger ab. Für acht Verletzte bestand nach den Stichen in Bauch, Lunge oder Niere Lebensgefahr. Jüngstes Opfer war eine 14-jährige Schülerin.

Zusätzliche Brisanz erhielt der Amoklauf, als einen Tag später bekannt wurde, dass eines der Opfer an der Immunschwäche Aids leidet. Nach dem Angriff auf den erkrankten Mann soll Frank P. noch mindestens weitere 15 Menschen verletzt haben. Monatelang schwebten die Opfer zusätzlich in der Angst, ebenfalls mit dem HI-Virus infiziert worden zu sein. „Das war das Schlimmste“, sagte eine 54-jährige Frau. „Diese Angst in sich zu haben – unbeschreiblich.“

Viele der Opfer verstanden zunächst gar nicht, was passiert war. „Ich spürte einen Schmerz im Rücken, dachte an einen Regenschirm“, sagt ein 47-jähriger Mechaniker aus Aachen. Lutz J. war direkt am Reichstag getroffen worden. „Ich stand auf der zweiten Stufe.“ Die Klinge bohrte sich durch Jacke und Pullover. „Ich wurde am Rücken getroffen, nur zwei Zentimeter von der Wirbelsäule entfernt.“ Dann die Aids-Gefahr. „Das war der Hammer.“ Er bekam wie die anderen Opfer Medikamente zur Vorbeugung.

Frank P. lebte mit seinem Vater und zwei von sechs Geschwistern in einem Neuköllner Mehrfamilienhaus. Die Polizei kannte ihn bis zu jener Nacht nicht als Schwerkriminellen. Wegen einer Sachbeschädigung war er aufgefallen, begangen in der Schule. Sein Mandant habe in der Untersuchungshaft viel nachgedacht, könne aber nichts zu seinem möglichen Motiv sagen, erklärte der Verteidiger. In einem vorläufigen Gutachten wurde Frank P. eine verminderte Schuldfähigkeit wegen alkoholischer Beeinflussung attestiert. Er hatte in der Tatnacht maximal 2,2 Promille Alkohol im Blut. Im Falle einer Verurteilung drohen ihm bis zu zehn Jahre Haft.

Kerstin Gehrke

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