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Berlin: Angelika Corell (Geb. 1964)

„Komm’se mal da weg und stell’nse sich auf die Markierung!“

Der neue Kameramann steht verloren im Fernsehstudio. Ein Live-Gespräch zwischen Politikern wird vorbereitet, alle rennen hin und her und an ihm vorbei, mit Kabeln und Klemmmappen, nur eine, Angelika, die Aufnahmeleiterin und Producerin, geht auf ihn zu und sagt, wohin er muss und ist auch die Einzige, die ihn später, nach dem Dreh, für seine Arbeit lobt.

Dabei rennt sie selbst so oft. „Wie hieß der Film?“, schreibt sie vor einem Jahr in ihr Tagebuch, „Lola rennt? Geli rennt, hätte auch gut gepasst. Der Job war alles, das Handy nie aus, jederzeit erreichbar, selbstverständlich.“ Der Druck nimmt zu, sie ist Freiberuflerin, die Rechnungen müssen bezahlt werden, Miete, Krankenkasse, Altersvorsorge, die Honorare steigen nicht, dafür das Arbeitspensum.

Sie beobachtet den Medienzirkus und ist ein Teil von ihm, ist auch froh mitzumachen. Also weiter, früh raus und spät wieder zurück, vom ARD-Hauptstadtstudio zu einer Pressekonferenz, zu einer Parteizentrale, zum Papstbesuch, hinaus in die Welt, in den Kosovo, wo sie sich unter schwierigsten Bedingungen darum zu kümmern hat, dass die Übertragung nach Deutschland zustande kommt. Sie arbeitet schnell, präzise, muss immer schon ahnen, was schieflaufen könnte, erstellt Produktionspläne und Zeitabläufe, verteilt Aufgaben und gibt Politikern, die zur Talk-Runde eingeladen sind, unerschrocken Anweisungen: „Komm’se mal da weg und stell’nse sich auf die Markierung!“ Denn es ist so eine Sache mit den Männern, zumindest, was den Beruf betrifft. Angelika kann sich lebhaft an ihre Zeit in München beim Bayrischen Rundfunk erinnern, dort, erstens als Frau und zweitens ohne das richtige Parteibuch, voranzukommen, erforderte Beharrlichkeit. Allein die Lust auf diesen Machtunsinn ging ihr irgendwann aus. Sie kündigte.

Zurück in Berlin rennt sie weiter, disponiert, koordiniert, fährt durch die Gegend. Bis zu diesem Tag im November 2006. Angelika ist in Dresden beim CDU-Parteitag. Sie steht im Saal, Politiker reden, Applaus, sie hat das Headset auf dem Kopf, ein Anruf der Polizei wird zu ihr durchgestellt, sie hört eine Stimme: „Ihr Mann ist gestorben“, sie gibt eine Bildanweisung und noch eine zweite. Dann kippt sie um.

„Ein Schmerz, der mir die Luft nahm“, schreibt sie, „und ich lief weiter. Ich rannte vor diesem Schmerz davon.“

Zwei Jahre später kann sie nicht mehr rennen. Krebs, sagen die Ärzte. Sie schlagen eine erste Chemotherapie vor, eine zweite, eine dritte. Die Krankheit bleibt. Angelika kämpft, gegen die Erschöpfung, gegen die Zumutungen der Behörden, die Berge von Formularen, die Existenzangst, die Todesangst.

Dabei ist sie doch so vieles mehr: Die Frau, die die kleine Espressobar ihres Freundes in der Reinhardtstraße liebt; mit der man streiten kann, auf eine beflügelnde Weise; die auf dem Tresen tanzt; die in den Siebzigern und Achtzigern durch die Clubs und Kneipen zieht; die sich für Menschen interessiert, vor allem für die kantigen; die man Sonntagabend auf keinen Fall anrufen darf, denn am Sonntagabend schaut sie Tatort; die joggt und Yoga macht; die alle Donna- Leon-Romane gelesen hat; die Mode mag, der Trends aber egal sind; die eine Modelagentur, nicht für die Jungen, nicht für die Mageren, gründet; die mit Freunden vor einem Imbiss sitzt, vor einem Schild, auf dem „Prosecco 2 €“ steht, eine Zigarette in der einen Hand, in der anderen ein Sektglas, gefüllt mit Champagner.

Sie ist aber auch das Mädchen aus der Gropiusstadt zu Zeiten von Christiane F., das mit 14 einen Drogentoten im Hausflur findet; das einen Boxer-Freund hat, einen Beschützer; dessen Vater immer sagt: „Wir müssen sparen“; dessen Mutter gern Sängerin geworden wäre; das mit 18, nur um die Eltern zu ärgern, den Motorrad-Andy heiratet und sich gleich wieder scheiden lässt; das als Sekretärin beim Amtsgericht und bei der Polizei Akten schreibt und stapelt.

Und sie ist die junge Frau, die ihr Abitur nachholt und studiert; die beginnt, beim Fernsehen zu arbeiten; die losrennt – und die eines Tages nicht mehr rennen kann.

„Nicht mehr planen“, schreibt sie, „das ist schwer.“ Und, zwei Sätze weiter: „Dann wieder die Angst zu planen.“ Sie weiß nicht, ob sie eine dritte Chemotherapie schafft. Aber sie weiß, dass sie leben will: „Steh auf Angelika, steh auf! Es lohnt sich, du schaffst das!“

Die Amplitude schießt in die Höhe und stürzt in die Tiefe. Der Lärm in der Stadt, das Gerenne, die Geldsorgen, die Angst ermüden sie. Augenblicke zählen jetzt: „Ein wunderschöner Spätsommerabend. Meine ersten Tomaten wachsen auf dem Balkon. Leise habe ich Musik an.“

Und einige Wochen später, im Oktober 2013: „Es ist nebelig draußen, ich finde das schön, dann ist die Stadt ruhiger. Bei drei Strahlen Sonne rennen ja alle sofort raus, als wenn morgen die Welt untergehen würde. Ich mag die Sonne auch, aber auch diese Tage. Mit Ruhe, Stille. Nur in der Stille hört man sich.“

Am 6. September stirbt sie.

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