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Berlin: Anita Lindstädt (Geb. 1956)

"Na, waren Sie endlich zusammen aus?"

Wenn Anita mit ihrer blonden Löwenmähne zur Tür hereinkam, die schlanke Anita, die schöne Anita, dann wusste Lucy: Jetzt wird alles gut. Bettlägrigkeit hin, Parkinson her.

Anita war ein Schatz, ein Engel, eine Altenpflegerin mit Hingabe. Bei ihr war Lucy nicht bloß ein Fall, ein leeres Kästchen, das man ein paar Stunden später abhaken konnte. Und Lucy wusste, dass es die junge Frau nicht leicht hatte: Einen Detlef hatte sie verlassen, weil er sie betrogen hatte. Einen Sohn, Markus, hatte sie mitgenommen. Ihre ebenfalls parkinsonkranke Mutter pflegte sie seit Jahrzehnten. Der Kredit bei der Citybank schien wie verhext: So viel Anita auch zurückzahlte, die Schulden wurden nicht weniger, und Zigaretten rauchte die junge Dame auch entschieden zu viele.

Lucy beschloss zu handeln: Der nette Altenpfleger Karl, der spätnachmittags kam, wenn Anita ging, der wäre doch der Richtige. Tatsächlich kannten sich Anita und Karl vom Sehen schon seit Jahren, und tatsächlich hatte Karl von Anfang an ein Auge auf die attraktive Frau geworfen. Hätte Lucy aber nicht immer wieder Grüße von Anita ausgerichtet und ein paar Anspielungen gemacht – wer weiß, ob sich Karl getraut hätte, die künftige Liebe seines Lebens zum Essen einzuladen.

Da ihm zu Hause die Schnitzel verbrannten, ging es in ein Restaurant. Beide aßen Muscheln in Knoblauchsoße. Lucy konnte es am nächsten Tag riechen: „Na, waren Sie endlich zusammen aus?“

Karl und Anita werden ein Paar, beziehen eine große Wohnung in der Wilmersdorfer Hildegardstraße. Hier hat auch Markus Platz, Mamas ein und alles. Er soll es besser haben als sie selbst. Nicht bloß Volkshochschule, viel Arbeit, wenig Geld. Markus soll getröstet werden, weil Anita traurig ist. Eis, wann immer er will, Schokolade, Spielzeug, bei jedem Einkauf ein Überraschungsei.

Vor ihrem Tod spielt Lucy noch einmal Schicksal: Über verschiedene Kontakte ermöglicht sie Karl und Anita, wie bisher alte Menschen zu pflegen, nun aber auf eigene Rechnung. Fünf Kunden reichen, um ein selbstständiges Auskommen zu haben, jenseits von wirren Dienstplänen und häufig wechselndem Personal.

Anita wünscht sich aber Sicherheit fürs Alter. Als sie den kleinen Lotto-Tabak-Presse-Laden in der Nähe des Bundesplatzes sieht, ist es Liebe auf den ersten Blick. Ein eigener Laden, sie tipptopp gekleidet und geschminkt mittendrin. Wie viel zusätzliche Arbeit das Lädchen dann bedeutet, merken Karl und Anita später. Morgens um sechs aufschließen, Zeitungen einsortieren, abends Abrechnung, oft um neun oder um zehn. Dazwischen immer schichtweise die Pflegedienste. Im Schnitt brachte der Laden eintausend Euro im Monat. Minus.

Anita kauft sich toll aussehende Kleider im Secondhand-Laden. So günstig wie möglich. Die großen Ausgaben macht sie nach wie vor für ihren Sohn. Markus hält das für selbstverständlich. Lernen, eine Ausbildung beenden, Arbeiten – derlei erscheint ihm hingegen oft kontraintuitiv. Wenn Karl es mit Strenge versucht, verwöhnt Anita ihn umso mehr. Karl will sein Auto nicht mehr an Markus verleihen, weil der es weder säubert noch betankt – prompt least Anita von ihrem letzten Geld einen Smart.

Als ihre Mutter stirbt, versucht sie zusammen mit ihrem Bruder Dieter, Kontakt zu den beiden anderen Brüdern herzustellen. Sie suchen übers Einwohnerregister und finden ihre älteren Geschwister registriert: im Obdachlosenheim in der Liezener Straße. Zur Beerdigung kommen die beiden Eingeladenen nicht.

Manchmal schämt sich Anita für ihre Familie. Manchmal fühlt sie sich wertlos. Manchmal ist ihre Angst so groß, dass sie sich selbst darin zu verlieren droht. „Karl“, sagt sie mitten in der Nacht, „du hast doch eine andere.“

Anita hängt an Karl, sie hängt an Markus, sie hängt an ihrem Lottoladen – und manchmal scheint es, als könne ein Windhauch alles zerstören. Aber Karl hält ihr die Treue und Markus bleibt ihr lieber Sohn, der ihr mit Mariechen ein weiteres Ein-und-alles schenkt, ein Enkelkind.

Erst als die Rückenschmerzen nicht mehr auszuhalten sind, geht Anita zum Arzt. Zwei Tage später sieht Karl sie weinend am Fenster sitzen und weiß: Ab jetzt wird es schlimm. Der Krebs hat bereits Metastasen gebildet, eine Chemotherapie will Anita trotzdem nicht: „Da verliere ich ja alle Haare.“ Es folgen die brutalen Wechsel von Hoffnungslosigkeit und Hoffnung, die Zerstörung des Körpers bei vollem Bewusstsein, Schmerzen, die trotz Morphinpflaster so stark sind, dass Anita Karl in der Nacht schreiend anfleht: „Mach das Kissen drauf!“

Nach vielen schlimmen Wochen hat sich Anita, jetzt 41 Kilo leicht, durchgerungen: Alles versuchen, auch eine Chemo. Ihr Leben ist ihr wichtiger als ihr Aussehen. „Weint doch nicht“, sagt sie. „Lacht doch einfach.“ Da bleiben ihr noch vier Tage. Anselm Neft

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