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Berlin: Anita Wosch (Geb. 1944)

26 Jahre, allein mit drei Kindern und auf der Suche nach einer Bleibe.

Das Foto zeigt den Vorraum einer Halle. Beton und Stahl. Ein silbern glänzender Handwagen wie aus einem uralten Science- Fiction-Film. In der Mitte des Bildes eine Frau mit fröhlich funkelnden Augen. Ein weißes Häubchen und ein weißes, uniformartiges Kleid. Eine Krankenschwester mit zu kurzem Rock. Dabei kümmert sich Anita um Brot. In meterlangen Stangen kommt es aus den Öfen im ersten Stock. Im Erdgeschoss wird es geschnitten, gewogen, eingetütet. Pro Schnittentüte gibt es Akkordlohn.

So trist die Brotfabrik in Moabit ausgesehen haben mag, Anita liebte ihre Arbeit. Das schnelle Schaffen, die Blödeleien mit Kolleginnen, die freundlichen Chefs, die im Sommer kühle Säfte, im Winter heißen Tee brachten. Damals in den Achtzigern, als man in Backfabriken noch schwatzen durfte, die Löhne gut waren und die Unternehmer dankbar für jede Angestellte. Hier arbeitete sich Anita von der Packerin zur Abteilungsleiterin hoch.

Anita war ein schüchternes Kind gewesen, das am liebsten mit den Eltern in der Küche saß oder seine Nase in Bücher steckte. Sie war so schüchtern, dass ihr andere Kinder Arroganz unterstellten. Wenn sie bei ihr klingelten, dann eher wegen ihres Balls als wegen Anita selbst. Auch während ihrer Frisörlehre war Anita nicht gerade eine Partylöwin. Aus Jux schütteten ein paar Halbstarke einmal Schnaps in ihre Cola. Anita war sofort betrunken. Das einzige Mal in ihrem Leben. Doch während andere Heranwachsende bei Tanztees Herren und Damen spielten, wusste Anita mit ihrer Zeit anderes anzufangen: Mit 18 bekam sie ihr erstes Kind. Begeistert waren die Eltern nicht, schlossen Anitas Jürgen aber bald ins Herz. Bei der Hochzeit zwei Jahre später war Anita wieder schwanger. Wieder bekam sie ein Mädchen und im folgenden Jahr noch eins. Jürgen arbeitete als Maschinenschlosser, Anita als Hausfrau. Die beiden liebten sich. Niemand ahnte, wie schnell die Ehe zerbrechen sollte.

Jürgens Eltern hatten kein gesundes Verhältnis zum Alkohol. Deshalb rührte er selbst keinen Tropfen an. Die Kollegen hänselten ihn deswegen und nötigten ihm Bier und Schnaps auf. Jürgen gab nach. Einmal, zweimal, dann immer wieder. So liebevoll und fürsorglich Jürgen nüchtern war, der Alkohol brachte eine andere Seite zum Vorschein.

Eines Nachts packte Anita das Nötigste zusammen und verließ mit den drei Kindern die Wohnung. Für immer.

Mit 26 war sie alleinerziehend und auf der Suche nach einer Bleibe. Sie hatte Glück, fand eine Stelle als Hauswart und bekam eine Dienstwohnung. Der Viermädelhaushalt hatte sich gerade vom Gröbsten erholt, als Anita an Krebs erkrankte. Hauswartstelle und Wohnung waren damit wieder passé. Diesmal besorgte eine Freundin Anita eine Unterkunft. Geld kam eine Weile vom Amt, dann von der Suppengrünbinderei „Kumkar“, pro Gemüsebund zwei Pfennig, dann von der Brotfabrik.

Anita war 58, als die Fabrik den Betrieb einstellen und sie entlassen musste. So gern sie gearbeitet hatte, den frühen Ruhestand wusste sie auch zu nutzen. Sie kochte und aß leidenschaftlich. Am liebsten deftig deutsch. Inzwischen hatte sie Enkel, die sie verwöhnen konnte. Manchmal waren die Jungs bei ihr zu Besuch, spielten bis tief in die Nacht an der Playstation, verspürten in den Morgenstunden ein Zwicken in der Magengrube und klopften bei Oma. Die stand sofort auf und kochte was. Oft war sie nachts ohnehin wach und guckte Fernsehen. Liebesfilme – „Einmal ein Kleid wie Scarlett O’ Hara tragen!“ – oder den Verkaufssender QVC – „Na gut, ich mach die Bestellung wieder rückgängig.“ Manchmal hielt sie auch etwas anderes wach: Eine Spinne an der Zimmerdecke konnte sie in eine anhaltende Angststarre versetzen.

Dass sich die üppigen Speisen auf den Hüften niederschlugen, störte Anita nicht besonders, und was Männer dachten, war ihr in dieser Hinsicht sowieso egal. Nach ihrer Ehe führte sie noch zwei, drei Beziehungen. Aber mit einem noch mal zusammenzuziehen kam nicht infrage.

Der erste Krebs blieb nicht der letzte. Mit 50 verlor Anita ein Stimmband, mit 59 eine Brust. Vor ihren Kindern und Enkeln zeigte sie sich weiter lebenslustig. Schmerzen machten ihr weniger aus, als der Gedanke von anderen abhängig zu sein. Sie war 64, als ihr der Krebs bis in die Knochen wucherte. Mit dem Tod einigte sich Anita auf unentschieden: Sie konnte ihn mit allem Frohsinn nicht aufhalten. Und er konnte sie mit aller Unerbittlichkeit nicht schrecken. Anselm Neft

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