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Berlin: Anja Rickel (Geb. 1966)

Und sog die Luft ein, bis sie glaubte, nicht mehr atmen zu können.

Ihre Kinderwelt von Montag bis Freitag, die Schule, die Schulfreunde, die Eltern der Schulfreunde, hatte nichts mit der Welt, in der sie jeden Samstag und jeden Sonntag lebte, zu tun.

Jeden Samstagvormittag, nach der Rechen- und Schreib- und Heimatkundestunde, warf sie ihre Schulmappe in eine Ecke und setzte sich zu ihren Eltern ins Auto. Die Reise in die andere Welt begann. Führte im Frühling vorbei an blühenden Weizenfeldern, im Spätsommer an aufgereihten Strohballen, im Herbst an kargen Furchen, in denen sich im Winter der Schnee sammelte.

Sie saß im Auto, ihre Stirn an die Scheibe gedrückt und wusste, in wenigen Minuten würde sie dort sein, in dem alten Bauernhaus, kurz vor Rheinsberg, die Schuhe ausziehen, mit den anderen Kindern zusammen nach den Laubfröschen in der Brombeerhecke sehen, nackt in den See springen, nackt auch und frierend Marmeladenbrote essen, unbemerkt den Gesprächen der Erwachsenen zuhören, einem Arzt, einem Klavierspieler, einem Maler, einem anscheinend Berufslosen, bis irgendwann, wenn es schon lange nicht mehr hell ist, einer von ihnen rufen würde: „Die Kinder sind ja immer noch nicht im Bett.“

Am späten Sonntagnachmittag setzte sie sich wieder zu ihren Eltern ins Auto und fuhr zurück nach Berlin, in die andere Welt.

So erzählte es Anja oft, später, als sie kein Kind mehr war, erzählte von den Sommern, in denen jedes Gefühl für Zeit abhandenkam, von dem Glück. Sie erzählte auch, dass die Berlinwelt nicht eigentlich bedrückend war, dass sie gute Noten bekam, sich mit den Mitschülern verstand. Und dass sie das Gefühl der Fremdheit dennoch nie ganz los wurde.

Sie hatte Sehnsucht. Und diese Sehnsucht wuchs mit den Jahren, wurde unerträglich, nachdem es das alte Bauernhaus nicht mehr gab, der Arzt und der Klavierspieler und alle anderen in lautem, langem Streit auseinandergegangen waren.

Wenn sie später Ausflüge unternahm, während ihres Romanistikstudiums und danach mit ihrem Mann und ihrem Kind, setzte sie sich allein an den struppigen Rand eines staubigen Feldweges und sog die Luft ein, bis sie glaubte, nicht mehr atmen zu können.

Anja mochte ihr Leben, mochte ihre Arbeit in einem Übersetzungsbüro, die Abende in der Küche, wenn das Kind im Bett lag, sie mit ihrem Mann über den Tag, über die Politik, über dies und das sprach. Sie las am liebsten Tucholsky und Tolstoi und kochte oft für Freunde nach Rezepten aus der Kochbuchsammlung.

Doch es wurden alle älter, und es tauchten während der Tischgespräche die Worte Eigentumswohnung und Haus im Grünen auf. Am Ende ging es um nichts anderes mehr. Und die, die sich keine Wohnung kauften, zogen hinaus aufs Land.

Sie kochte nur noch selten für die Freunde, folgte stattdessen den Einladungen in die ausgebauten Bauernhäuser mit den großen wilden Gärten, deren Grenzen mit den Rändern der Felder verschwammen. Anja sah den anderen beim Pflücken der Johannisbeeren zu und beim Kochen von Marmelade, saß schweigend dabei, während sich die anderen über Dachbalken, Kamine und Komposthaufen unterhielten, reagierte immer gereizter, manchmal sogar wütend. Sie wollte nicht mehr zu diesen Freunden fahren, man kann es sich auch in der Stadt schön machen, warum muss es gleich ein Haus sein, eine konstruierte heile Welt, für die man Kraft braucht und Geld, womöglich einen Kredit.

Dachte sie und spürte ihre Sehnsucht. Wusste im Grunde klar, so sagt ihr Mann, dass ihr Unmut einen anderen Grund hatte. Dass sie die Kindheit, das vergangene, erinnerte Glück nicht zurückholen konnte.

Und irgendwann, nach einem Routinebesuch beim Arzt, stand fest, es würde auch keine Zukunft mehr geben. Metastasen in der Brust, im Rücken, bald überall. Anja starb zu Hause, an ihrem Bett saß ihr Mann, im Nebenraum schlief tief das Kind.

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