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Berlin: Annemarie Müller (Geb. 1932)

"Du passt schön auf, dass ich nichts Falsches erzähle, ja?"

Annemarie liegt im Bett. Sie glättet eine Falte in ihrem Nachthemd, sie schaut an die Zimmerdecke, sie schaut zu Horst. Horst sitzt nah bei ihr. Er hält ihre Hand. Das Bett steht in einem Zimmer des Senioren- Zentrums Schöneberg, Sonnensprenkel und die Schatten der Bäume vor dem Fenster huschen über die Wände.

Annemarie soll sich erinnern, soll für ein Biografieprojekt der Diakonie von ihrer Kindheit, ihrer Jugend, den Jahren danach erzählen. Die erste Frage an Annemarie ist die nach dem Anfang: „Wann wurden Sie geboren?“ Annemarie schaut an die Zimmerdecke, sie schaut zu Horst. Horst hält ihre Hand fester: „Sag, wann bist du geboren?“, und sie antwortet: „Am 27. September 1932.“

Die zweite Frage überspringt viele Jahrzehnte: „Wo haben Sie gewohnt, bevor Sie hierherkamen?“ Annemarie verfolgt mit den Augen einen über die Decke wandernden Lichtpunkt. Horst antwortet: „1971 sind wir in die Wohnung am Bayerischen Platz gezogen.“ Er wird, im Laufe des Gespräches, auf die meisten Fragen antworten. Aber er wird immer wieder ihre Hand in die seine nehmen und sagen: „Mein Spatz, du passt schön auf, dass ich nichts Falsches erzähle, ja?“ Und Annemarie wird ihn ansehen und nicken.

„Wir sind immer Hand in Hand gegangen“, erzählt er, „auch als wir schon alt waren. Die Leute haben sich manchmal sogar nach uns umgedreht.“ Er streicht ihr über das graue Haar: „Ein herrliches Strohblond hatte sie.“

An einem Sommertag 1954 waren sie zum ersten Mal gemeinsam an die Havel gefahren, waren ins Wasser gerannt und wieder heraus, hatten sich tropfnass ins Gras gelegt, gelacht und waren dann auf die „Alte Liebe“, einen Ausflugsdampfer, gestiegen.

Seit 1948 lebte Annemarie in Berlin. Zur Welt gekommen ist sie in Lübben, im Spreewald, vier Monate vor der Machtergreifung der Nazis. Ihr Vater war Böttchermeister, baute Eichenfässer, in denen Gurken eingelegt wurden. Wenige Jahre später war alles zerstört, die Werkstatt und Annemaries Elternhaus. In Berlin ließ sie sich zur Krankenschwester ausbilden und begann, auf der Geburtsstation des Behring-Krankenhauses zu arbeiten. 1956 heiratete sie Horst und wechselte von der Klinik in eine Arztpraxis, die Arbeitszeiten waren geregelt, sie war nun eine Ehefrau, kaufte ein, kochte, nähte, wusch und putzte.

Horst beugt sich zu Annemarie, legt seine Hand auf ihren blassen Arm: „Du warst eine der tüchtigsten Hausfrauen, meine Kleene.“

Windeln aber wusch Annemarie nie, kochte keinen Brei, nähte keine Hemdchen, keine Höschen. Man hatte die Wölbung unter ihren Kleidern schon deutlich erkennen können, aber eines Tages, in der Praxis, trat ihr eine demenzkranke Frau mit solcher Wucht gegen den Bauch, dass das Kind nicht überlebte.

Sie hielten sich fester noch bei den Händen, flogen nach Rimini und badeten im blauen Meer, gingen in die Oper, fuhren nach dem Mauerfall immer zwei Wochen im Frühjahr und zwei Wochen im Herbst an all die Orte, in Sachsen, in Thüringen, an der Ostsee, die sie noch nicht kannten.

1997 hörte Annemarie auf zu arbeiten. Sie reisten weiter, wanderten, auch wenn es beschwerlicher wurde. Annemarie stürzte einige Male, verletzte sich die Knie, den Ellbogen, brach sich den Oberschenkel. Aber die Veränderung, die Horst dann wahrnahm, war tiefer.

Das Gespräch im Seniorenheim ist zu Ende. Annemarie hebt ein wenig den Kopf und winkt. Drei Monate danach stirbt sie. Einige Wochen später erzählt Horst: „Vor kurzem bin ich an die Havel gefahren, zur ,Alten Liebe‘. Auf den Steg, der ins Wasser führt, haben sie jetzt Tische und Stühle gestellt. Für einen Moment habe ich mich dort hingesetzt.“

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