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Antigewalt-Training: Gewalt in der U-Bahn: Man sollte vorbereitet sein

Kann man noch entspannt U-Bahn fahren, wenn jeder neue Übergriff die Erinnerung an die Höhepunkte der Gewalt weckt, an Totgeschlagene und Schwerverletzte? Ein Antigewalttrainer sagt: Ja, aber man sollte sich wappnen.

Variationen in der U-Bahn: Gucken und zugleich nicht gucken. Aus den Augenwinkeln wahrnehmen. Sich im Buch verkriechen. Mit dem iPod Gespräche vermeiden. Mit Blicken ausziehen. Die Augen schließen. Die Zeitung entfalten. Simsen. Dumm anmachen. Sich tot stellen. Sich vergessen. Sterben auch?

An einem Freitag im Frühjahr 2011 wartet Philip Dao, 38, Körperspannung, um kurz vor zehn Uhr abends am U-Bahnhof Mehringdamm am Gleis der U 7 Richtung Rudow. Das gelbe Geschoss fährt ein, saugt die Fahrgäste von der Bahnsteigkante, Dao blickt sich kurz im Wagen um, nimmt jeden wahr, stellt seine Tasche rechts neben sich und drückt seinen langen Rücken in den Graffiti-Schutz.

Mit wem sonst sollte man U-Bahn fahren in diesen Tagen?  Jeder neue Übergriff weckt die Erinnerung an die Höhepunkte der Gewalt: An den Mann, der am Himmelfahrtstag auf einem Bahnsteig in Rostock-Warnemünde erschlagen wurde, an den Zusammengetretenen aus der Berliner Friedrichstraße vom April und den Verprügelten vom U-Bahnhof Lichtenberg im Februar und an Dominik Brunner, der 2009 auf einem Münchner S-Bahnhof starb.

Philip Dao, Ninjutsu-Kämpfer, lehrt seit zehn Jahren in einem Studio am Hermannplatz, wo sich die U 7 und die U 8 kreuzen. Er hat hunderte Berliner in Selbstverteidigung geschult. In seiner Eigenschaft als Diplom-Psychologe beurteilte er jahrelang schwere Gewalttäter. Er erkennt Waffenträger an den spezifischen Ausbeulungen ihrer Kleidung. Sein Blick ist tastend, nicht aufdringlich. Vielleicht kann man sich diesen Blick leihen.

Freitagabends, hatte er gesagt, ist die richtige Zeit. Da fängt es manchmal an zu vibrieren. Wenn die Leute in Gruppen losziehen, um etwas zu erleben, voller Erwartung und manchmal voller Alkohol. Als eine lärmende Gruppe Jugendlicher samt Getränken den Wagen verlässt, sacken die anderen Passagiere erleichtert in ihre Sitze zurück. In sich selbst versunken schaukeln die Körper der bunten Sommermenschen 2011 aufgereiht in einem dieser endlosen Waggons wie Algen im Wasser. Dao ist ganz in Schwarz, breitbeinig, raumgreifend. „Aufmerksamkeit“, sagt Dao, ist das Wichtigste. Und Vorbereitung.

Denn im Gegensatz zum Vollkasko-Leben der Autofahrer in ihren schützenden Karossen, ist der U-Bahn-Fahrgast zurückgeworfen auf seinen eigenen Körper, auf dessen Ausstrahlung und manchmal sogar auf seine Kraft. Und das ist so ungeheuerlich, weil es jede gesellschaftliche Verabredung aufkündigt. Wer ist schon vorbereitet auf ein körperliches Kräftemessen? Auf Gewalt auf freier Strecke?

Aber die Vorbereitung auf das U-Bahnfahren in Zeiten der Unsicherheit beginnt viel früher, sagt Dao. Lange vor einem Körpereinsatz. Es mache schon einen Unterschied, wie man Blicken begegnet. Der andere spüre, ob man noch Reserven hat, im Notfall auch noch Kraft für einen Kampf.

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Vertraute Bahnhöfe schießen vorbei. Vor der Scheibe gewittern die Farben: das Blau der Gneisenaustraße, das Gelb vom Hermannplatz. Blau, gelb, bunt, wie ein riesiger, schillernder blauer Fleck. Ist es nicht eine Illusion, dass man sich mit der richtigen Ausstrahlung schützen kann? Kann einer entwaffnend gucken? Dao muss einige U-Bahn-Stationen weit ausholen, um das zu erklären.

Selbst er dachte lange, Gewalttäter seien irgendwie „die anderen“. Sein Büro in einem Berliner Gefängnis war eingekeilt zwischen den Zellen, sein Blick fiel durch ein vergittertes Fenster auf Mauer und Stacheldraht. Wenn die Tür aufflog, standen vor seinem Schreibtisch die Männer von den Titelseiten des Boulevards. Doch später, wieder draußen, als er in der U-Bahn umherblickte, wie er es immer tut, grüßten ihn auch dort überall Ehemalige und Gewalttäter auf Freigang. Er verstand: Diese Menschen sind unter uns.

Wer sich wappnen will, muss akzeptieren, dass Aggression und Gewalt zum Menschsein gehören, sagt Dao. Erst dann sei man bereit für die Vorbereitung. „Wir wissen, es sind nicht gewisse Menschen, die ständig gewalttätig sind, sondern gewisse Situationen, die bei Menschen Gewaltpotenzial eröffnen.“ Und Situationen sind lange ambivalent. Erst durch ihren Ausgang werden sie eindeutig, entscheidet sich, wer hinterher als Opfer gilt und wer als Täter. Es muss darum gehen, diese Situationen zu beeinflussen.

Obwohl Dao ohne genaue Zahlen nicht behaupten will, dass die Gewalt zugenommen hat, bemerkt er doch, dass man in der Berliner U-Bahn seit einigen Wochen angespannter reagiert, sobald irgendetwas im Waggon zu knistern beginnt. Die Leute starren dann angestrengt geradeaus. Er nennt es den Kaninchenblick. Ein sicheres Indiz, dass etwas nicht stimmt.

Aber ist die Gewalt nicht zuletzt brutaler und hemmungsloser geworden? „Das wird seit 100 Jahren festgestellt. Wenn dem so wäre, müssten wir jetzt im Kriegszustand sein.“

Sind wir aber nicht. Vielmehr finden wir in der U-Bahn noch immer das Destillat der Großstadt. Hier wurzelt die Stadt. Hier zeigt sie ihren Charakter, hier lässt sich die Verfassung ihrer Bewohner ablesen. Es ist ein großes, ständig gefährdetes zivilisatorisches Wunder, dass so viel körperliche Nähe bei so viel sozialer Distanz möglich ist. 1,4 Millionen Mal wird in Berlin täglich eine friedliche U-Bahn-Fahrt unternommen. Und wie wurden die Londoner bewundert, als sie nach tödlichen Bombenanschlägen 2005 stoisch weiter U-Bahn fuhren und sich ihren öffentlichen Raum nicht nehmen ließen.

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Am liebsten, sagt Dao, sitzt er auf einem Platz längs zum Wagen. Da hat man niemanden im Rücken und alle im Blick. Vier frisch geduschte Jungs, die vermutlich aus genau den gleichen Gründen dort sitzen, reden lauter, als sie müssten. „Aufmerksamkeit darf keine Paranoia werden“, sagt Dao. „Man kann sonst sein ganzes Leben im Panic Room verbringen.“ Die Arme der Mitreisenden wandern krakenhaft über die Rückenlehnen. Einer steigt unvermittelt aus, die anderen krakeelen hinterher.

„Das sind ganz normale Jungs“, sagt Dao. „Die wollen was erleben.“

Was ist denn in der U-Bahn zu erleben?

„Das Gefühl, mittendrin zu sein“, sagt Dao. Pöbeleien sind eine Erfahrung mit ungewissem Ausgang. Das lockt. Manchmal reizt eine körperliche Sensation. Die Aufmerksamkeit Fremder. Anerkennung der Peer-Group. „Hey, ich bestimme eine Situation.“ Im Waggon: Kaninchenblick.

Ein Irrtum der klassischen Selbstverteidigung sei deshalb die Konzentration auf den Kampf. „Es sieht dann so aus, als seien Schläge die einzige Möglichkeit.“ Dabei sei der gewonnene Kampf derjenige, den man gar nicht kämpfen muss. Es gibt, sagt Dao, ganze Berufsgruppen, die dauerhaft mit aggressiven Menschen zu tun haben: Ärzte, Sozialarbeiter, Jugendamtssachbearbeiter. Menschen sind wütend auf Vollzugsbeamte und auf Mitarbeiter der Jobcenter. „Die können ja schlecht ihre Kunden ausschalten.“ Es muss also andere Möglichkeiten geben.

Einmal wollte Dao in eine U-Bahn einsteigen, deren sich öffnende Tür nur den Blick auf einen breiten Rücken freigab. Die Arme ruhten rechts und links auf den Stangen. Er wartete eine Weile, der Mann drehte sich um, trat aus der Tür, schubste ihn zur Seite und ging seines Weges. Dao hat gar nichts gemacht, außer sich um sein eigenes Gleichgewicht zu kümmern.

„Das Ziel muss sein: Lösungen finden, wie der andere ohne Schläge sein Gesicht wahren kann.“ Da beginnt für Dao Kampfkunst. Man müsse es psychologisch schaffen, so eine Situation als Sieg zu begreifen.

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200 zusätzliche Polizisten stehen nach den jüngsten Zwischenfällen für die Berliner U-Bahn in Aussicht, außerdem soll es Lautsprecherdurchsagen schon während eines Zwischenfalls geben. Als eine Art Stimme des Gewissens aus dem Off. „Jegliche Präsenz“, sagt Dao, „kann die Sicherheit erhöhen.“ Aber eigentlich werde Sicherheit damit wieder delegiert. Wer delegiert, bleibt passiv. Besser ist es, Sicherheit in sich selbst zu finden. Wer will sich auch darauf verlassen, dass zufällig ein Polizist in der Nähe ist?

Der Bahnsteig an der U 7, Parchimer Allee, ist vollkommen verwaist. Das Benachrichtigungssystem Daisy verspricht eine U-Bahn in Richtung Rathaus Spandau in acht Minuten. „Soll ich mich umdrehen, wenn ich hinter mir Schritte höre?“, fragen ihn Frauen oft, denn das werde bereits als Angst interpretiert. Auf jeden Fall umdrehen, sagt er dann. Wichtig ist, dass man natürlich bleibt. Es ist unnatürlich, krampfhaft wegzugucken. „Wie lange soll ich gucken?“, fragen die Frauen. Gucke interessiert, gucke selbstverständlich, sagt Dao. So, als würdest du dich in einem Café umgucken, ob du jemanden kennst.

Lange, sagt Dao, habe man an den Ursachen von Gewalt geforscht, an Arbeitslosigkeit, Motiven in der Kindheit, „möglichst weit weg vom Phänomen“. Inzwischen wendet man sich den Situationen zu, in denen Gewalt entsteht. Die Täter müssen sich zum Beispiel einen würdigen Gegner erst aufbauen. „Ein Täter muss ungeheuer viel Energie aufbringen, um jemanden anzugehen, der sich gar nicht provozieren lässt.“

Die Gewalt in den U-Bahnen, sagt Dao, ist deshalb hauptsächlich ein Männerproblem. Sie geraten schneller „in den vermeintlichen Zwang, den Hahnenkampf bis zum Ende durchspielen zu müssen“. Sie haben ein größeres Problem damit, in der Öffentlichkeit zu „verlieren“.

Die U 7 unterquert ratternd Berlin. An jedem Bahnhof spülen Menschen hinein und hinaus. Dao wird von einem Schüler erkannt. Am U-Bahnhof Hermannplatz steigt ein weinendes Mädchen mit seiner Mutter ein. Die Bühne ist bestens beleuchtet, es wird gefilmt. Routinemäßig zeichnen die Kameras in der Decke auf. In irgendeiner Überwachungszentrale wird ein Mitarbeiter sehen, wie eine Mutter ihre Tochter schaukelt. Die Mitreisenden rutschen zusammen. Wegen des allgemeinen Friedens dieser Szene wird sie natürlich niemals bei Youtube abzurufen sein.

Die tausendfach hochgeladenen Gewalt-Videos jedoch wurden unter den Blicken im Netz zur Massen-Unterhaltung. Philip Dao klickt sie mit analytischem Interesse an: typisch das Verhalten des Opfers in der Friedrichstraße. Man sieht gut, wie sich bei einer Bedrohung sofort der Blick verengt und der 29-Jährige nur noch in das Gesicht des Angreifers schaut. Nach unten hängen die Hände, die er bräuchte, um die Flasche abzuwehren, die der Täter lange in der rechten Hand schwenkt, den richtigen Moment abwartend, um sie ihm voll ins Gesicht zu schlagen. „Immer auf die Hände gucken“, sagt Dao. Obwohl dieser Gedanke so naheliegend ist, müsse man ihn sich einprägen, bevor im entscheidenden Fall Angst die Oberhand gewinnt.

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Dao sieht sich im Januar an, wie erst zwei Rentner den Schützen stoppen, der in Tucson, Arizona, auf die US-Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords schießt. Er schaut im Februar das Video von der alten Dame in Northampton, England, die mit ihrer Handtasche ganz alleine mehrere behelmte Angreifer in die Flucht schlägt, die einen Juwelier überfallen. Er schaut, um zu lernen.

„Kriminelle sind keine guten Kämpfer“, sagt Dao. Sie wollen Erfolge erzwingen. Sie zeichnen sich deshalb durch zweierlei aus: Hemmungslosigkeit und einen Mangel an Geduld. Weil sie keine Geduld haben, durch Arbeit zu Geld zu kommen, rauben sie. Weil sie keine Geduld haben, Jahre in eine Kampftechnik zu investieren, schlagen sie mit der Bierflasche zu. Das zu wissen sei unter Umständen nützlicher als ein eingeübter Karategriff.

Er selbst war „eher der Junge, der auf die Mütze bekommen hat“. Bis er mit zwölf Jahren Karate entdeckte. Vor lauter Begeisterung klebte er die Plakate seines Studios in der ganzen Schule an. Im Bild war ein fliegender Kämpfer in der Luft. Dazu schrieb er: „Wenn ihr mehr wissen wollt, fragt Philip aus der 5C.“ Man könnte sagen, schlagartig hörte die Belästigung auf. Es war die erste Lektion im Thema: gewinnen ohne zu kämpfen.

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