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Anna Staroselski hat die Kundgebung „Jüdisches Leben ist keine Provokation!“ mitorganisiert.

© Sebastian Leber

Antisemitismus in Berlin-Neukölln: „Es darf keine No-Go-Areas für Juden geben“

Am Sonntag demonstriert ein Bündnis vor dem Rathaus Neukölln gegen judenfeindliche Übergriffe – und gegen verstörende Ratschläge. Ein Interview.

Im Frühjahr gab es in Neukölln mehrere antisemitische Aufmärsche. Nun wollen sich am Sonntag ab 17 Uhr jüdische und nichtjüdische Berliner:innen vor dem dortigen Rathaus versammeln. Zu den Initiator:innen gehört Anna Staroselski, 25, Studentin an der Humboldt-Universität und Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion.

Frau Staroselski, den Ort Ihrer Kundgebung haben Sie nicht zufällig gewählt. Weshalb Neukölln? 
Nicht allein wegen des Judenhasses, der sich in Neukölln sehr offen auf der Straße gezeigt hat. Sondern auch wegen der verstörenden Debatte, die dadurch ausgelöst wurde.

Was meinen Sie?
Nach den Parolen, die zum Mord an jüdischen Menschen aufriefen, und nach den physischen Einschüchterungsversuchen und Übergriffen gab es Stimmen, die ernsthaft forderten, Jüdinnen und Juden sollten sich von Orten wie Neukölln besser fern halten oder dort zumindest nicht zu erkennen geben.

Was halten Sie von derartigen Ratschlägen?
Das ist kein geeignetes Sicherheitskonzept, sondern eine Täter-Opfer-Umkehr. Und eine Bankrotterklärung des Rechtsstaats. Ein Staat hat die Aufgabe, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen. Dass sie sich frei und sicher bewegen können und ihre Religion nicht verheimlichen müssen, auch nicht in Neukölln. Stattdessen heißt es nun wieder: Juden, versteckt Euch. Wir wollen uns aber nicht mehr verstecken.

Mitte Mai wurden drei jüdische Menschen am Hermannplatz am Rande einer propalästinensischen Demonstration angegriffen. Ein Polizist riet ihnen, an Tagen wie diesen besser die Kette mit Davidstern abzulegen. 
Damit sagt er nichts anderes als: Ihr seid eine Provokation, wenn Ihr Euch als Juden zu erkennen gebt. Natürlich kenne ich viele Berliner Juden, die tatsächlich ihre Kippa ausziehen, bevor sie nach Neukölln fahren, weil es ihnen sonst zu riskant wäre. Das ist eine individuelle Entscheidung, die ich verstehe. Aber es kann doch nicht sein, dass der Staat und Nichtjuden dies als Lösung propagieren. Es darf keine No-Go-Areas geben. Dagegen wollen wir am Sonntag ein Zeichen setzen..

Teilnehmer einer propalästinensischen Demonstration am 15. Mai in Neukölln. 
Teilnehmer einer propalästinensischen Demonstration am 15. Mai in Neukölln. 

© Fabian Sommer/dpa

Gab es bei Ihren Planungen auch interne Bedenken wegen der Standortwahl?
Natürlich. Erstens wegen der Sicherheit. Wir haben uns gefragt, ob sich überhaupt Menschen trauen werden, nach Neukölln zu fahren, um dort Stellung zu beziehen. Zum Glück gibt es sehr enge Absprachen mit der Polizei, sie wird an diesem Tag unsere Sicherheit garantieren. Zweitens möchten wir auf keinen Fall in eine antimuslimische Ecke gerückt werden.

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Inwiefern?
Es ist wichtig, jeden Antisemitismus zu benennen - egal, aus welcher Richtung er auch kommen mag. Es gibt ihn von rechts, von links und aus der Mitte der Gesellschaft. Wir haben ihn massiv auf den Demonstrationen der sogenannten Querdenker erlebt. Aber er existiert eben auch in Teilen der muslimischen Community, und das muss man ansprechen. Natürlich darf man Muslime nicht unter Generalverdacht stellen, so wie es die AfD tut, das ist absurd und grundfalsch. Wir verurteilen Muslimfeindlichkeit entschieden. Aber es gibt islamistische Gruppen, die gezielt ihren Judenhass in die Öffentlichkeit tragen wollen und unbeschämt zur Gewalt aufrufen.

Fühlen Sie sich von der deutschen Mehrheitsgesellschaft hier im Stich gelassen?
Ja. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass der Aufschrei gegen den antisemitischen Qudsmarsch, der dieses Jahr in Berlin nur wegen Corona ausgefallen ist, viel deutlicher und lauter ausfällt. Es kann doch nicht allein Aufgabe der Jüdinnen und Juden sein, Antisemitismus zu benennen.

[Lesen Sie mehr über Jüdisches Leben in Berlin: 2000 Jahre Familiengeschichte: Wie eine junge Jüdin ihre Identität entdeckte (T+)]

Was fordern Sie von der Politik?
Sinnvoll wäre ein Betätigungsverbot der Terrorgruppen Hamas und PFLP in Deutschland. Und wie kann es sein, dass ein Moscheeverein wie das “Islamische Zentrum Hamburg”, das laut Verfassungsschutz die Hisbollah unterstützt und als „weisungsgebundener Außenposten“ des Irans fungiert, unbehelligt bleibt? Natürlich braucht es auch Bildung. Ich habe Kontakt zu Berliner Lehrern. Die erzählen mir von massivem Antisemitismus an ihren Schulen - und davon, dass sie nichts dagegen unternehmen können. Sobald sie versuchen, Antisemitismus zu dekonstruieren, werden sie von ihren Schülern angegangen, der Lüge bezichtigt, auch selbst mit antisemitischen Klischees behaftet. 

Die Kundgebung „Jüdisches Leben ist keine Provokation!“ beginnt am Sonntag um 17 Uhr vor dem Rathaus Neukölln. Es sprechen unter anderem Bezirksbürgermeister Martin Hikel, Vertreter der  Jüdischen Gemeinde und der ehemaligen Bundestagsabgeordnete Volker Beck. 

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