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Gewachsen, um zu bleiben. Das verkünden die Aktivisten per Plakat. Aber schon bald könnte es mit der letzten Linde endgültig vorbei sein.

© Kai-Uwe Heinrich

Anwohnerprotest in Schöneberg: Eine Baumwache kämpft für die Linde im Crellekiez

Mit Karabiner, Hängematte und Schlafsack: Im Crellekiez protestieren Anwohner immer noch gegen die Abholzung einer Linde. Sie wollen der Kreissäge trotzen und dem Winter. Zu Besuch bei der Baumwache.

Nachts, wenn der Wind die Linde biegt, fühlt sich Anja Jochum wie auf hoher See. Sie weiß, wovon sie redet, geht oft segeln - aber jetzt gerade muss sie diesen Baum schützen, den letzten. Jochum, 49, wohnt im Crellekiez, seit Wochen protestiert sie mit anderen Anwohnern gegen die Abholzung der Natur an der Crellestraße 22a. Die PSG GmbH will die Brache bebauen, sie hat alle Genehmigungen, nur mit dem Nachbarschaftsboykott hat sie nicht gerechnet. Am 2. Oktober, in der Früh, fuhr ein Fällkommando vor, beauftragt vom Bezirk, die Motorsäge ließ von rechter und linker Linde nur ein Stumpf. Die mittlere Linde wurde verschont, weil ein Aktivist in die Krone geklettert war. Mittlerweile ist der Dienst im Wipfel Methode geworden, es gibt Pläne, gibt Schichten.

In der Nacht lag Jochum für fünf Stunden in der Hängematte, geschützt vor Nässe durch eine Plane, jetzt harrt sie den Vormittag aus. Mal mit Buch, mit Handy, sieben Meter über dem Trottoir. Die Welt ist ein bisschen kleiner von hier oben, aber die Bedrohung der Linde, die ist gleich groß geblieben, findet Jochum. „Es geht uns nicht nur um den Baum, sondern generell um die Bauplanung, um die Art und Überdimensionalität des neuen Hauses, das hier entstehen soll.“ Mietexplosionen, Gentrifizierung, Mangel an sozialen Wohnungen. Die Kiezianer kämpfen eine große Debatte im Kleinen.

Die Rettung dieser letzten Linde ist nicht nur, aber auch ein symbolischer Akt. Und was ist mit Höhenangst? „Ich mache auch Fallschirmsprünge“, sagt Jochum, sie nestelt am Gurt, bis der Karabiner einhakt, dann geht es wieder hoch. Die Protestlerin war kurz am Boden, eine Kitagruppe lieferte einen Verpflegungskorb ab. Mirabellenkompott, Biobrot, Äpfel. Längst hat sich das Umfeld solidarisiert und verpflegt die ständige Baumwache. Jochum justiert sich in der Luft, verschiebt die Schlaufe, zieht am Tau.

Den Dienst im Baum machen nur fünf Leute, das Aufseilen erfordert Geschick und Kraft. Der wachende Rest besetzt die Bank neben dem Stamm. Decken, Tee, Kekse, Kerzen, zwei Schlafsäcke. Mit der Dämmerung kommt die Kälte. „Eigentlich bin ich ein Frierstiefel, aber“ - Jochum zeigt auf ihre lammfellgefütterten Ugg Boots, auf den gepolsterten Seidenblouson, darunter ein schwarzer Kragenpullover - „mit vielen Schichten geht das schon.“

Eine Nachbarin schüttelt den Kopf. Bei Schnee und Frost werde der Investor ja wohl sowieso nicht bauen. Jochum sagt: „Das weiß man nicht. Wir müssen wachsam bleiben.“ Die freiberufliche Projektmanagerin richtet Arbeit und Familie derzeit nach dem Baum aus, die Linde ist ihr ein Anliegen, schnell spricht sie und viel. In den Achtzigern hat sie mitgemacht, als sich die Anwohner um eine Viertelverschönerung mühten. Ein Neubau soll den Einsatz nicht konterkarieren.

Aus der Baumkrone genießt Jochum einen exponierten Blick auf das Areal 22a, auch auf die Böschung am Hang, ein Biotop, sagt sie: „Viele Tiere, im Sommer Vögel, artenreich und grün.“ Würde hier gebaut, auch der Wildwuchs müsste weichen. Damit das nicht passiert, wacht der Trupp. Dass der Bezirk die Sägearbeiten neu ausgeschrieben hat, weiß Jochum. Aber sie hofft, der Kreissäge auch beim nächsten Mal zu trotzen. Aus der Krone. In der Hängematte.

Moritz Herrmann

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