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Der Hell-Seher von Pankow. Werner Krätschell, Superintendent i.R., ist hier geboren, aufgewachsen und hat in seinem Heimatbezirk als Pfarrer gewirkt. Neben seiner Haustür hängt ein Zitat aus einem Werk Dietrich Bonhoeffers.

© Mike Wolff

Appell eines DDR-Oppositionellen: Warum Pfarrer Krätschell an die hellen Seiten des Ostens erinnert

Bei Werner Krätschell traf sich die DDR-Opposition, drangsaliert von der Stasi. Dennoch kritisiert er, dass die Akten den Blick auf die Vergangenheit bestimmen.

Heiligabend 1989 klingelt Werner Krätschell bei dem Mann, der noch ein paar Wochen zuvor die Macht gehabt hätte, das Leben des evangelischen Pfarrers zu zerstören. Beide kennen sich nicht persönlich. Doch Egon Krenz lässt den Pankower Superintendenten ein, dessen Pfarrhaus über lange Jahre ein Treffpunkt der DDR-Opposition war. Krenz empfängt ihn mit den Worten: „Wissen Sie, von den Genossen kommt keiner mehr. Aber mein Pastor.“

Vor dem Machtverlust. Als Egon Krenz einen Tag vor dem Mauerfall (hier mit Politbüromitglied Günter Schabowski) auf einer Kundgebung spricht, sind seine Tage als DDR-Staats- und Parteichef bereits gezählt.
Vor dem Machtverlust. Als Egon Krenz einen Tag vor dem Mauerfall (hier mit Politbüromitglied Günter Schabowski) auf einer Kundgebung spricht, sind seine Tage als DDR-Staats- und Parteichef bereits gezählt.

© dpa

Während Ost- und West-Berliner selig das erste gemeinsame Weihnachten nach dem Mauerfall feiern, ist der Pfarrer seinem „Tick“ gefolgt, wie er heute sagt: Heiligabend geht er regelmäßig dorthin, wo weihnachtliche Wärme fehlt. „Ich wusste, zehn Minuten von mir entfernt wohnt Egon Krenz nach seinem tiefen Sturz.“

Drei Stunden sprechen die Männer miteinander, worüber genau, bleibt beider Geheimnis. „Der Inhalt unterliegt der seelsorgerischen Schweigepflicht“, sagt Krätschell 30 Jahre später. Nur so viel: Es stellt sich heraus, dass Krenz getauft und konfirmiert wurde.

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Zuhören, miteinander reden, Argumente diskutieren – damit ist der Osten Deutschlands durch die Monate nach Massenprotesten und Mauerfall gekommen, ohne dass es großes Chaos oder gar Mord und Totschlag gegeben hätte. Die Methode des Ausgleichs zwischen widerstreitenden Kräften haben die Runden Tische jener Zeit geradezu perfektioniert.

Der eckige Runde Tisch. Nach dem Mauerfall etablierten sich in der ganzen DDR die Runden Tische (hier ein Foto vom Zentralen Runden Tisch.) Werner Krätschel moderierte das Ost-Berliner Gremieum, das im Roten Rathaus tagte.
Der eckige Runde Tisch. Nach dem Mauerfall etablierten sich in der ganzen DDR die Runden Tische (hier ein Foto vom Zentralen Runden Tisch.) Werner Krätschel moderierte das Ost-Berliner Gremieum, das im Roten Rathaus tagte.

© Seepp Spiegl/Imagao

Krätschell ist einer von drei Moderatoren des Ost-Berliner Gremiums, in dem Vertreter der friedlichen Revolution und des DDR-Systems vertreten waren. Tagungsort war das Rote Rathaus. Erzählt der heute 79-jährige Pfarrer im Ruhestand von den aufregenden Tagen, so ist schnell klar: Die konstruktive Atmosphäre am Runden Tisch hätte er gern in die heutige Zeit gerettet.

Werner Krätschell – Pfarrer mit spannender Biografie

  • 1940 wird er mitten im Krieg geboren, die Bombennächte in Berlin haben ihn geprägt
  • Als Ost-Berliner besuchte er eine West-Berliner Schule
  • Am Tag des Mauerbaus machte er Ferien in Schweden - und kehrte zurück in die DDR
  • In seinem Pfarrhaus trafen sich Vertreter der DDR-Opposition
  • Sechs Inoffizielle Stasi-Mitarbeiter waren auf ihn angesetzt
  • Er besuchte Egon Krenz nach dessen Sturz - und später in Haft
  • Ende der 1990er Jahre baute er die Militärseelsorge im Osten auf

„Worthülsen waren damals nicht zu hören“, sagt er über die Gespräche am Runden Tisch. „Das änderte sich erst, als die Westparteien Einzug im Osten hielten.“ Ihnen hält er obendrein bis heute vor, während der Teilung zu sehr auf die Mächtigen in der DDR fixiert gewesen zu sein und zu wenig aufs Volk. „Im Schloss Schönhausen haben die Klinken geglüht“, spottet Krätschell über die zahlreichen Besuche von Politikern aus der Bundesrepublik im Gästehaus der DDR-Regierung.

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Keine fünf Minuten entfernt vom gut gesicherten Schloss: das Pankower Pfarrhaus, in dem sich seit Anfang der 1980er Jahre viele Mitglieder der DDR-Opposition treffen. Die Stasi hält das Ganze für so gefährlich, dass sie 30 Inoffizielle Mitarbeiter spitzeln lässt. Allein auf Krätschell waren sechs IM angesetzt. Auch sein Stellvertreter als Superintendent hat Berichte geschrieben, erpresst von der Staatssicherheit.

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Die menschlich eindrucksvollen Zeugnisse der DDR

Trotz Drangsal zu Mauerzeiten warnt Krätschell heute davor, das Bild vom Leben in der DDR aufgrund von Erkenntnissen aus Stasi-Akten zu malen. Zum einen hätte die Opposition – aus naheliegenden Gründen – die eigene Arbeit in den seltensten Fällen dokumentiert. Zum anderen fehlt in den Unterlagen des Geheimdienstes etwas Entscheidendes: dass es „oft menschlich eindrucksvolle Zeugnisse der DDR-Zeit“ gibt, die sich am besten als „aufrechter Gang“ beschreiben lassen.

Nicht „das Dunkle“ dürfe bestimmend sein, sagt Krätschell deshalb, vielmehr das „Helle“ müsse in den Fokus gerückt, Neugier auf Theater, Malerei und Musik des Ostens geweckt werden. Und auf die Predigten in den Kirchen: „Die waren kerniger und dem Evangelium oft näher.“

Historisches Gebäude. Das Schloss Schönhausen diente einst als Gästehaus der DDR-Führung. Politiker aus Ost und West wurden hier empfangen.
Historisches Gebäude. Das Schloss Schönhausen diente einst als Gästehaus der DDR-Führung. Politiker aus Ost und West wurden hier empfangen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Das ist wohl nur ein Problem: Helle Köpfe, die sich für das Helle aus DDR-Zeiten interessieren, gibt es nach Meinung Krätschells zu wenige. „Auf bis zu 80 Prozent der Führungspositionen an wichtigen Stellen der Gesellschaft sitzen Menschen, die nicht in der DDR gelebt haben“, sagt der Theologe. So entstehe ein verzerrtes Bild vom Leben dort.

„Ich träume davon“, so sagt er deshalb, „dass sich in Ostdeutschland eine ähnliche Durchmischung von Einheimischen und Zugezogenen ergäbe wie in den westdeutschen Bundesländern“. Dann brauche er auch nicht mehr „die ewig wiederholte und fast zynische Frage“ zu beantworten, ob sich die Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse empfänden.

Aus dem sicheren Schweden kehrte Krätschell in die DDR zurück

Geboren und aufgewachsen ist Krätschell im Pankower Ortsteil Heinersdorf. Sein Vater ist Pfarrer, so wie seit Generationen mindestens einer aus der Familie. Als Kriegskind hat ihn die Zeit der Bombennächte geprägt, wenn nicht gar traumatisiert. „Wenn ich den Krieg in Syrien sehe und eines der Kinder dort, dann denke ich: Solch ein Kind bin ich auch gewesen.“

Zur Schule ist er erst in Pankow, später in Wedding gegangen, da war Berlin zwar schon geteilt, aber die Grenze noch offen. Als sich das schlagartig am 13. August 1961 ändert, macht der junge Krätschell gerade Ferien in Schweden. Illegal ist er dorthin gereist, ohne die nötige Genehmigung der DDR-Behörden. Er wählt aber nicht die Freiheit, sondern kehrt zurück nach Ost-Berlin zu seinen Eltern – und zum Theologiestudium.

Als Kirchenmann durfte er in den Westen reisen

Ende der 1960er tritt Krätschell eine Pfarrerstelle an, in der alten Heimat Pankow, im Ortsteil Buchholz. Ab 1979 ist er dann Superintendent für 24 evangelische Kirchengemeinden im Norden Ost-Berlins. Seine Stellung in der Kirche macht es möglich, dass er zu Mauerzeiten in den Westen reisen kann, unter anderem nach Großbritannien und in die USA. „Ich war ein seltener Vogel“, sagt er, sich seiner privilegierten Stellung bewusst. Nicht selten ist er bei den Reisen unglücklich – weil er die Eindrücke nicht mit Frau und Kindern teilen kann.

Erbe der Stasi. Der Geheimdienst legte Akten an. Die Erkenntnisse daraus bestimmen bis heute das Bild vom Leben in der DDR.
Erbe der Stasi. Der Geheimdienst legte Akten an. Die Erkenntnisse daraus bestimmen bis heute das Bild vom Leben in der DDR.

© Stephanie Pilick/dpa

Die seiner Meinung nach verengte Sicht auf den Osten macht der Theologe beispielhaft am Namen einer Institution fest: „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur – da weiß man doch schon, was kommt“, sagt Krätschell ironisch.

Seine Kritik geht aber noch weiter. Während des Vereinigungsprozesses hätten die Westdeutschen zu wenig auf die Ostdeutschen gehört, was diese sich für ein vereintes Deutschland wünschen – oder auch nicht. Dass die demografischen Mehrheitsverhältnisse nicht gerade dafür gesprochen haben, lässt Krätschell nicht gelten. Es hätte Anerkennung finden müssen, dass die Ostdeutschen stärker für den Zweiten Weltkrieg gebüßt hätten.

Buße für die Verbrechen der Nazi-Zeit

„Das Leben unter dem DDR-System, gerade für uns Kirchenleute, war die Folge des Zweiten Weltkrieges“, sagt Krätschell dazu. „Ein Grundgefühl bei mir und Gleichgesinnten zu DDR-Zeiten war: Wir akzeptieren das Defizit unseres Lebens, weil es eine gerechte Strafe für den Hochmut der Deutschen in der Nazizeit war.“ Doch dafür hat dem Westen das Gespür gefehlt. Stattdessen stülpte er seine Maßstäbe und Spielregeln dem Osten über. Darin sieht Krätschell auch einen der Gründe, weshalb die AfD bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen so stark geworden ist.

[Zum Jubiläum des Mauerfalls hält Werner Krätschell beim Gedenkgottesdienst im Dom am 10. November um 10 Uhr die Predigt. Im Anschluss daran spricht der britische Historiker Timothy Garton Ash zum Mauerfall.]

Über die Monate vor und nach dem Mauerfall hat Krätschell ein spannendes Buch geschrieben. „Die Macht der Kerzen“ heißt es, und es beschreibt anschaulich ein Wunder: dass eine Revolution friedlich verlaufen kann. Von den paar Blumentöpfen abgesehen, die von den Balkonen neben Stasi-Leute niederkrachten, als diese im Wendeherbst ’89 gegen Demonstranten in Prenzlauer Berg vorgingen.

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