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Berlin: Arbeit ist das ganze Leben

Künftig sollen alle später in Rente gehen. Viele Menschen sind schon jetzt im Ruhestand aktiv Der Verein „Tätiger Lebensabend“ hilft dabei, eine Beschäftigung zu finden. Dafür gibt es bereits Wartelisten

Sein kleines Paradies betritt Kurt Dögel Punkt 14 Uhr – wie jeden Freitag. Ganz langsam, denn seine Beine wollen nicht mehr. Zielsicher schlurft er mit seinem Rollator zum Sonnenplatz am plätschernden Terrassenbrunnen. Hier bekommt er von Irene Lentschke sein Lebenselixier, das ihn, wie er gerne erzählt, „schon im Krieg“ gesund erhalten habe: ein Gläschen Rotwein.

Irene Lentschke, seine Bedienung in der Cafeteria des Vivantes-Pflegeheims in der Reinickendorfer Teichstraße, könnte seine Schwester sein. „Könnte“, denn nur die wenigsten haben hier noch direkte Familienangehörige. Umso wichtiger, dass sie da sind, Irene Lentschke und ihre zwei Kolleginnen vom Verein „Tätiger Lebensabend“ – dreimal die Woche für einen kleinen Lohn. Um ein paar Wiener, ein Stück Kuchen oder eine Tasse Kaffee zu reichen. Manchmal nur, um zuzuhören. „Ausruhen können wir uns, wenn wir alt sind“, sagt die 76-Jährige und zwinkert vergnügt. Aus der Stereoanlage besingt Nicole „Ein bisschen Frieden“.

Alter ist relativ. Das beweisen die Mitglieder des Vereins „Tätiger Lebensabend“ seit nunmehr 40 Jahren. Über 160 Aktive zwischen 60 und 87 Jahren sind täglich in Berlin als Pförtner, Schreibkräfte, Museumsaufseher und Servicekräfte in Cafeterien unterwegs. Um mal rauszukommen, etwas Sinnvolles zu tun. Die aktiven Senioren sind Vorreiter für ein Modell, das bis 2029 Wirklichkeit werden soll: die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Rente gibt es dann frühestens mit 67.

„Aufwandsentschädigung“ nennt Irene Lentschke die vier Euro, die sie vom Verein pro Arbeitsstunde erhält. Meist kauft sie davon ihren Enkeln oder Urenkeln kleine Geschenke, ihr geht es weniger ums Geld. Als sie in Ruhestand ging, wollte sie nur eines unbedingt vermeiden: als Rentnerin daheim „zu versauern“. Sie wollte noch mit anpacken, unter Menschen sein, gefordert werden. Gern hätte die gelernte Verkäuferin länger in ihrem Beruf gearbeitet. Über eine Zeitungsannonce kam sie zum Verein und ist seitdem die gute Seele der kleinen Cafeteria in Reinickendorf, ihrer „kleinen Familie“.

Doch allein der Wille, nach der Verrentung zu arbeiten, reicht nicht: Wie für alle anderen, so sind auch für die Senioren die Stellen knapp geworden, oft altersbegrenzt, und die Nachfrage ist groß. In der Geschäftsstelle des Vereins in Tempelhof führen Brunhilde Wrona und Christa Bleck seit Monaten Wartelisten: eine für das Wohnpflegeheim Plänterwald, eine für die Domäne Dahlem und viele andere. „Die rennen uns die Bude ein“, sagt Brunhilde Wrona, selbst 67 Jahre alt. Und fügt an, was angesichts des Vereinszwecks fast komisch klingt: „Auch wir müssen in diesen Zeiten auf das Alter schauen.“ Jugend ist Trumpf – selbst bei den Senioren. So müssen Neumitglieder seit einiger Zeit jünger als 70 Jahre sein.

Manfred Walter hat da Glück gehabt. Seit zwei Jahren ist der 68-Jährige „Mädchen für alles“ an der Rezeption des Pankower Pflegewohnheims „Dr. Günther Hesse“. Zweimal die Woche sortiert er morgens in der Pankower Straße die Post, Urlaubskarten von den Enkeln, Briefe von Freunden und die lang ersehnte Illustrierte. Die Tageszeitungen bringt er persönlich vorbei. Wenn die Sonne vom Himmel strahlt, legt er Decken auf die Bänke vor der Tür und hält ein Schwätzchen mit der Dame von Etage drei. Früher, an seinem Arbeitsplatz in einem großen Verlagshaus, ging es für den gelernten Schriftsetzer nicht so ruhig zu: Unregelmäßige Arbeitszeiten und häufige Wochenenddienste machten ihm schließlich seine Entscheidung für die Frührente mit 63 leicht. Hier im Pflegewohnheim braucht man Leute wie ihn, und manchmal ist er sogar genau an der richtigen Stelle: Im vergangenen Sommer wurde Manfred Walter zum Retter, fing eine alte Dame auf, die bewusstlos in sich zusammensank.

Eines allerdings ist für den Rentner heute grundlegend anders als in seinem früheren Job: „Wenn mir was nicht passt, kann ich auf dem Absatz kehrt machen.“ Denn was in der Arbeitswelt unter 65 nur sehr schwer möglich ist, das macht der Verein seinen Mitgliedern leicht: Passt einem ein Job nicht, kann man wechseln. Das beruhigt und wirkt vertrauensbildend, machen doch die wenigsten Aktiven von diesem „Notausstieg“ tatsächlich Gebrauch. Langjährige Verbundenheit und Treue zum Einsatzort sind eher die Regel. Aus Sicht der Arbeitgeber sind das perfekte Arbeitnehmertugenden. Doris und Karin Scheithauer sind das beste Beispiel dafür. Seit 15 Jahren arbeiten sie zwölf Stunden pro Woche im Museum der Domäne Dahlem in der Zehlendorfer Königin-Luise-Straße, schreiben Dienstpläne, kassieren Eintritt, betreuen den Museumsladen. Der Renner heißt hier „Schafsmilchseife“, aber auch der hausgemachte Honig läuft gut. „Am schönsten ist es“, sagt Doris Scheithauer, „wenn viele Gäste im Haus sind“ – bis zu 1000 an Markttagen und Kinderfesten. Manchmal kommen Fragen auf Englisch, dann legt die gelernte Schiffsführungstechnikerin los, erklärt den Krämerladen und die Bienenausstellung zur Not mit Händen und Füßen. Mit all ihrer Lebenserfahrung weiß sich die 77-Jährige zu helfen. Auch für sie stand der Wunsch ganz oben, sich bloß nicht „mit dem Staublappen in der Hand“ zu Hause einzumauern.

Auch ihrer Schwester Karin graute es davor. Heute gehört Karin Scheithauer in der Domäne „zur Inneneinrichtung“, nimmt den Schlüssel-Rundgang am Ende des Arbeitstags als Routine. Ihr festes Vorhaben für die Zukunft: „Hier bleiben wir noch ewig.“

Rolf-Dieter Eichler ist mit 71 Jahren kürzer getreten und vom belebten Technikmuseum ins familiäre Schloss Britz, „der Perle von Neukölln“, gewechselt. Der frühere Journalist empfängt Besucher, beantwortet Fragen zum Jagdzimmer mit Wildschweingemälde und zum gläsernen Londoner Zimmerspringbrunnen. Einschreiten muss er, wenn wieder Gäste am Privatsekretär des Gutsherren Platz nehmen oder das Blitzlicht auspacken. Doch richtig schrecklich ist für Rolf-Dieter Eichler nur eines: Wenn der Besucherstrom doch einmal abreißt. Dann findet er seinen Job im Schloss genauso langweilig wie das Rentnerdasein daheim.

Der Verein „Tätiger Lebensabend“ ist unter Telefon 752 27 53 zu erreichen.

Nadja Kerschkewicz

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