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Arbeiterwohlfahrt: Nähen statt sitzen

Wenn Frauen ihre Geldstrafe nicht zahlen können, bewahrt sie die Kleiderwerkstatt vor dem Gefängnis.

Unzählige Male ist sie beim Schwarzfahren erwischt worden, wie oft genau, weiß die 38-Jährige gar nicht mehr. Am Ende wurde sie zu einer Geldstrafe von 1800 Euro verurteilt, umgerechnet 90 Tagessätze. Eine unerschwingliche Summe für die Hartz-IV-Empfängerin. Der Gedanke ans Gefängnis ist für Charlotte Reinert (Name von der Red. geändert) noch immer eine Horrorvorstellung. „Da hätte ich lieber einen privaten Kredit aufgenommen“, sagt sie. Wie die arbeitslose Frau den wieder hätte begleichen sollen, weiß sie allerdings nicht. Das Angebot, die Tagessätze abzuarbeiten, empfindet die Hartz-IV-Empfängerin auch nach zwei Monaten in der Kleiderwerkstatt als ihre Rettung.

Seit sieben Jahren bietet die Arbeiterwohlfahrt eine Alternative für Menschen, die ihre Geldstrafe nicht zahlen können und deshalb ins Gefängnis müssten. „Integration statt Ausgrenzung“ (ISA) ist das einzige Projekt in Berlin, das Frauen beschäftigt, „die erheblich in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sind“, also unter körperlichen oder psychischen Problemen leiden. Finanziert wird die Kleiderwerkstatt in Mitte auch mit Geldern des Senats. Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) hat das Projekt in der Prinzenallee gestern besucht. „Die Finanzierung für die nächsten zwei Jahre ist gesichert“, verkündete die Senatorin.

Ein riesiger Berg an Kleidern liegt jeden Tag vor den Frauen. Die Hosen, Pullover und T-Shirts müssen gebügelt und gefaltet werden. „Dann verkaufen sie sich auch besser“, erzählt eine Frau am Wäschetisch. Bis zu dreißig Frauen können in der Einrichtung arbeiten. Sechs von ihnen lernen heute gerade, wie man mit einer Nähmaschine umgeht. Die anderen Frauen präsentieren den Besuchern ihre Nähkünste. Die bunten Patchworkdecken sollen auf Weihnachtsmärkten verkauft werden. „Das ist bewusst ein niedrigschwelliges Angebot“, sagt Projektleiterin Gisela Krüger. Man erwarte nicht, dass die Frauen nüchtern zur Arbeit kommen. „Aber wir erwarten, dass sie arbeitsfähig sind.“

Einmal in der Woche bekommen die Frauen Verstärkung von Brigitte Primke. Die Designerin im Ruhestand arbeitet seit fünf Jahren ehrenamtlich in der Kleiderwerkstatt. Mit ihr entwerfen und nähen die Frauen eigene Kleidungsstücke. „Das ist eine richtig gute Sache, und man bekommt ganz viel zurück“, sagt die Rentnerin. Die meisten Frauen seien selig, wenn sie lernen, sich selbst hübsche Kleider zu nähen.

Seit eineinhalb Jahren lebt Charlotte Reinert von Sozialhilfe. Als ihre Abteilung bei Siemens in der Produktion geschlossen wurde, verlor sie ihre Anstellung. Die Arbeit in der Kleiderkammer soll kleine Erfolgserlebnisse bringen und das Selbstvertrauen stärken. Es scheint zu funktionieren: Stolz zeigt die 38-Jährige ihre erste selbst genähte Hose. Eine blaue Cordhose, nur der Reißverschluss fehlt noch. „Es ist super, ich bin total happy“, sagt Charlotte Reinert. Wenn sie ihre 90 Tage abgearbeitet hat, will sie sich für zu Hause einen schönen Stoff und eine günstige Nähmaschine im Internet kaufen.

River Tucker

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