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Das Otto-Suhr-Institut der Freien Universität in Berlin-Dahlem.

© imago images/Jürgen Ritter

Verbindung zur Kolonialzeit und Auschwitz möglich: 16.000 Knochen-Fragmente auf Gelände der FU Berlin ausgegraben

Nach einem Knochenfund bei Bauarbeiten 2014 in Dahlem haben Archäologen Tausende menschliche Überreste entdeckt. Wie soll die Universität damit umgehen?

Das Dreieck zwischen Ihne-, Gary- und Harnackstraße in Berlin-Dahlem ist für Archäologin Susan Pollock eine „kontaminierte Landschaft“. Seit 2015 leitet sie mit ihrem Kollegen Reinhard Bernbeck die Ausgrabungen auf dem Grundstück der Freien Universität, auf dem sich zwischen 1927 und 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) befand. 2014 sind dort bei Bauarbeiten die ersten Knochen gefunden worden.

Etwa 16.000 Teile menschlicher Knochen haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler seitdem in jahrelanger Arbeit ausgegraben, „Fragmente, teilweise nur so groß wie ein Fingernagel“, so Susan Pollock. Die Knochenteile hätten in fünf absichtlich gegrabenen Gruben gelegen.

„Wir haben es nicht mit Gräbern zu tun“, erklärte die Forscherin am Dienstagnachmittag bei der öffentlichen Präsentation der Ausgrabungsergebnisse. Die Freie Universität, die Max-Planck-Gesellschaft und das Landesdenkmalamt hatten zur Online-Konferenz geladen, 350 Teilnehmer:innen aus dem In- und Ausland hatten sich angemeldet.

Die 16.000 Knochenteile gehören nicht zu kompletten Skeletten. Gefunden wurden Schädel, Arme, Rippen, Füße, Zähne, Hände, Wirbel, Beine, Becken, Unterkiefer. Je nach Berechnungsgrundlage gehen die Forscher von mindestens 54 beziehungsweise 107 Menschen aus, von denen die Knochen stammen. „Wahrscheinlich liegt die richtige Zahl irgendwo dazwischen“, meint Susan Pollock. Rund um das ehemalige KWI-A fanden die Archäologen Überreste von Männern und Frauen, von Alten, Kindern und Föten.

„Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass wir es mit den Resten der Sammlung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie zu tun haben“, erklärte Hans-Walter Schmuhl, Professor an der Universität Bielefeld. Das Institut beherbergte medizinisch-ethnologische Sammlungen unterschiedlicher Art und kolonialgeschichtlicher Provenienz; es lieferte aber unter anderem auch eine pseudo-wissenschaftliche Legitimation für die nationalsozialistische Rassenpolitik.

Aus dem KZ wurden Körper nach Berlin geschickt

Dass sich unter den Knochen auch Überreste von Auschwitz-Opfern befinden könnten, „ist nicht völlig ausgeschlossen“, sind sich Hans-Walter Schmuhl und Susan Pollock einig. „Wir wissen, dass Körper von Auschwitz an das Kaiser-Wilhelm-Institut gesendet worden sind“, sagt die Forscherin. Auch Augen von Sinti-Zwillingen seien nach Berlin geschickt worden.

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Die überwiegende Anzahl der Knochen – das Ausgrabungsteam hat auch tierische Knochen gefunden – „scheint nicht aus Auschwitz zu stammen“, ist für Susan Pollock klar. Die fehlende Zahnbehandlung, nicht vorhandene Prothesen und auch gefundene Klebstoffreste würden diese Schlussfolgerung nahe legen.

Egal woher sie kommen: Es sind alles Opfer von Verbrechen. „Es sind Menschen, es sind Reste von Menschen, egal ob sie aus dem NS- oder dem Kolonialzusammenhang stammen“, betonte FU-Präsident Günter M. Ziegler. „Die klaren Antworten, die wir uns wünschen, können wir nicht bekommen.“

Gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma habe die Universität beschlossen, die menschlichen Knochen weder einer DNA- noch einer Radiokarbon-Untersuchung zu unterziehen. Man wolle die Würde der Toten achten; zudem bestehe auch bei weiteren Untersuchungen „keine Chance“ Individuen zu identifizieren. „Das ist fürchterlich“, so der FU-Präsident, „wir können den Opfern kein Gesicht geben“.

„Wir können den Opfern kein Gesicht geben“

Die Leichenteile sollten „würdig, aber nicht religiös bestattet werden“, schlug Günter Ziegler vor. Auf einem Grabstein sollte kenntlich gemacht werden, „woher die Opfer kommen, die dort liegen“. Noch sei jedoch nichts entschieden, es sei ein Vorschlag, man wolle keine Fakten schaffen.

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In der anschließenden Diskussion forderten verschiedene Konferenzteilnehmer:innen, „Dachverbände der schwarzen, afrikanischen oder afrodiasporische Community“, den Zentralrat der Afrikanischen Gemeinde, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland oder Vertreter der Herero in die Gespräche einzubinden. Jetzt müsste man in kleinerer Runde mit den Verbänden und Selbstorganisationen das weitere Vorgehen beraten, stimmte Ziegler zu.

Im einstigen Kaiser-Wilhelm-Institut residiert heute das Otto-Suhr-Institut

Für die Freie Universität muss noch eine zweite Frage geklärt werden: Wie soll angemessen mit der grauenvollen Geschichte an ihrem Standort umgegangen werden? Im ehemaligen Gebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts hat heute das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft (OSI) seinen Sitz. Im Projekt „Geschichte der Ihnestr. 22“ entwickelt das Team um Historikerin Manuela Bauche Konzepte für das Gedenken und Erinnern, sie wollen „den Ort sichtbar machen“.

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Seit 1988 gebe es zwar eine Gedenktafel am Eingang des OSI, doch sei sie schwierig zu entziffern, sie werde kaum wahrgenommen. Das Projektteam schlägt für den Innenbereich des OSI eine Beschilderung „in zwei Schichten“ vor: Jeder Raum würde mit der heutigen Funktion ausgeschildert werden – aber in einer Schicht darunter würde die Nutzung des Raums im Kaiser-Wilhelm-Institut deutlich.

Wo heute Dozent X der Fachrichtung Y seinen Schreibtisch hat, könnte sich zum Beispiel der „Psychologische Versuchsraum“ befunden haben. Eine Ausstellung in allen vier Geschossen sowie Computerterminals, auf denen vertiefende Informationen abrufbar und Zusammenhänge erklärt werden, sollen das Konzept abrunden.

Hinweistafeln und eine Außenausstellung sind geplant

Im Außenbereich lautet das Ziel, alle Gebäude, die zum Kaiser-Wilhelm-Institut gehört haben, durch Hinweistafeln kenntlich zu machen. Ein weiterer Informationsort sollen die Fund- und Grabungsstellen der Knochenfragmente werden. Zudem ist zur Harnackstraße hin eine Außenausstellung geplant. Auch hier gilt: Erste Vorschläge liegen auf dem Tisch, nichts ist beschlossen, die Diskussion läuft.

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Das war das Stichwort für Alexander von Schwerin. Er lehrt an der Technischen Universität Braunschweig und ist Mitarbeiter im Forschungsprogramm zur „Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft“, der Nachfolgeorganisation der Kaiser-Wilhelm-Institute. Er schlägt vor, am ehemaligen Ort des KWI-A ein „Gedenk- und Bildungszentrum der Geschichte der Verfehlungen der Wissenschaft in NS- und Kolonialzusammenhängen“ zu begründen.

Auch die Verantwortung der Wissenschaft heute und in der Zukunft sollte das Thema des Zentrums sein. Florian Schmaltz vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte pflichtete bei: „Einen solchen Gedenk- und Bildungsort gibt es bislang nicht und er würde es ermöglichen, immer wieder neu auftauchende wissenschaftsethische und wissenschaftspolitische Fragen zu diskutieren.“

„Erinnern heißt verändern“, sagte die Archäologin Susan Pollock am Dienstagnachmittag. Sie zog die Verbindung zum rassistischen Terroranschlag in Hanau, der sich am 19. Februar jährte. Über den „gewissenlosen Forschungsrassismus“ müsse aufgeklärt, an die Opfer würdig erinnert werden.

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