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Architektur: Der diskrete Charme der 50er Jahre

Die Bauten der Nachkriegsära gelten als hässliche Massenware. Nun entdeckt Berlin einen Teil davon neu – und damit auch Norman Braun, der im sozialen Wohnungsbau Ungewöhnliches wagte. Zum 100. Geburtstag des Architekten.

Polieren, polieren, polieren. So umschreibt Peter Joos, was er tut, um die Wohnanlage in Schuss zu halten. „Man darf nichts auf die lange Bank schieben“, sagt er. „Sonst nehmen die empfindlichen Materialien Schaden und die Leute werden unzufrieden.“ Angesichts des guten Zustands der Häuser und der dazugehörigen Ladenzeile glaubt man dem Enkel des Bauherrn sofort, dass er es ernst meint. Seine Mieter seien alle sehr zufrieden, sagt Joos, Leerstand bei den Wohnungen gebe es keinen, die Fluktuation sei gering. „Es ist halt gute Architektur – zeitlos schön.“

Gemeint ist das Ensemble an der Seegefelder Straße Ecke Borkzeile, wenige Gehminuten vom Bahnhof Spandau entfernt. Die Häuser, entstanden 1953/54, gehören zu den ersten größeren Aufträgen des Berliner Architekten Norman Braun und stehen, wie auch einige andere seiner Gebäude, unter Denkmalschutz. Am 30. August wäre Braun 100 Jahre alt geworden. Heute ist sein Name kaum bekannt. In den Wiederaufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg war das anders.

Zu Brauns Ruf haben die Gebäude an der Seegefelder Straße damals entscheidend beigetragen. Seine Häuserblöcke lassen viel Licht ins Innere, die Grundrisse sind für die damalige Zeit fast schon verschwenderisch großzügig. Den Putz der Lochfassaden hat Braun mit sparsam verwendetem Ziegelmauerwerk unterbrochen, um die Treppenaufgänge zu betonen. Mit geringem Aufwand hat er viel erreicht. Gepflegtes Grün umgibt die Häuser, statt geschlossener Höfe gibt es offene Zugänge zur Straße, die dennoch den Verkehrslärm weitgehend außen vor lassen.

Die Seegefelder Straße ist Brauns Visitenkarte. Nach ihr entwirft er vor allem für den sozialen Wohnungsbau, über die ganze Stadt verteilt, aber vor allem in den westlichsten Bezirken: Spandau, Charlottenburg, Wilmersdorf. Von ihm stammen aber auch Entwürfe für Schulen und ein Kinderheim, für Industrieanlagen und Büros. Brauns Bauten sind würdige Stellvertreter der Berliner Nachkriegsmoderne.

Lange wurde die Architektur dieser Zeit wenig geachtet, sogar als verpasste Moderne geschmäht. Jetzt gewinnt sie an Wertschätzung. Der Berliner Senat will sich nun mit dem Hansaviertel auf der einen und der Karl-Marx-Allee auf der anderen Seite für das Unesco-Weltkulturerbe bewerben. Mit den Siedlungen der klassischen Moderne der Weimarer Republik hat das bereits geklappt. Die Nachkriegsmoderne soll daran anknüpfen und Auskunft geben über eine Zeit, in der die Konkurrenz zwischen Ost und West in der Architektur ihre Entsprechung fand.

Wie kaum eine andere Stadt ist Berlin durch die Nachkriegsmoderne geprägt. Kein Wunder: In keiner anderen Stadt wurde der Wohnungsbau nach dem Zweiten Weltkrieg so forciert und unterstützt, in West wie Ost. Neben der Systemkonkurrenz war dafür vor allem die grassierende Wohnungsnot verantwortlich.

40 Prozent der Innenstadt waren zerstört, zehntausende Menschen wohnungslos. Abhilfe sollte her und gleichzeitig auch mit den Mietskasernenmilieus gebrochen werden. Darin liegt auch der schlechte Ruf der Bauten dieser Zeit begründet: Schnell sollte der Wohnraum geschaffen werden, nicht schön. Billig sollten die Gebäude sein, nicht aufwendig. Standardzuschnitte waren das Maß der Dinge, nicht Individualität.

Norman Braun hat versucht, beiden Ansprüchen gerecht zu werden – denen seiner Auftraggeber und seinen eigenen. An der Seegefelder Straße ist es ihm gelungen. In dem architektonischen Korsett, vorgegeben unter anderem von der Wohnungsbau-Kreditanstalt (WBK), die die Sozialbauten finanzierte, hat er versucht, sich Gestaltungsspielräume zu schaffen. Die Küche darf nur zehn Quadratmeter haben? Braun entwirft offene Modelle, gruppiert den Essplatz hinzu, manchmal als Übergang zum Wohnzimmer, spart sich Wände und gewinnt Licht und Luft.

„Grundrissvorlagen hat er nicht akzeptiert“, erinnert sich Brauns Sohn Thomas, selber Architekt. Solche Vorlagen waren beliebt, um nicht viel Zeit fürs Entwerfen und statische Berechnungen zu verlieren. Standardisierte Entwürfe erhielten schnell den Finanzierungs-Zusagestempel der WBK und wurden bei den Genehmigungsbehörden durchgereicht. „Wer das nicht wollte, wie mein Vater, musste bei der WBK unter der Tür durch“, sagt Thomas Braun und umschreibt so, dass es mitunter viel Mühe kostete, in der Wiederaufbauzeit für Entwürfe zu werben, die sich abheben sollten von der großen Masse.

Dieser Ruf, nur Massenware zu sein, hing der Nachkriegsmoderne lange an – verstärkt noch durch den mitunter ungepflegten Zustand der Bauten. Beispiel Charlottenburg-Nord: Die Siedlung südlich der Jungfernheide und westlich von Siemensstadt, gebaut nach dem Generalentwurf von Hans Scharoun, steht komplett unter Denkmalschutz. Viele Nachbarn aber schütteln den Kopf angesichts des Zustands der Siedlung. Hier schützen Notdächer an den Hauseingängen die Bewohner vor herabfallenden Fassadenteilen, dort bröselt der Putz vor sich hin. Auf dem verwilderten Grünzug, den ein verbeultes Schild als „geschützte Grünanlage“ qualifiziert, machen sich Kaninchenrudel nützlich und halten den Rasen kurz. Große Bäume verstellen die Sicht auf die geschützte Architektur. „Gut so“, findet ein Mittvierziger, der gerade sein Auto entlädt. „Ich wohne zwar gerne hier, weil’s grün und ruhig ist, aber die Häuser sind unterirdisch.“ Dass sie fast allesamt Baudenkmäler sind, will ihm nicht in den Kopf. „Abreißen wäre eine Lösung.“

Im Einkaufszentrum am Halemweg, das Teil des geschützten Ensembles ist, sehen es die Menschen, die hier ihre täglichen Besorgungen erledigen, zwar nicht ganz so drastisch, aber eine Veränderung wünschen sie sich schon. Das kleine Ladenzentrum mit Supermarkt und Schutzdach-Pergola hat Norman Braun 1959 fertiggestellt. Einige der kleinen Läden stehen leer, die Anlage wirkt vernachlässigt. Die Nachfrage nach kleinen Einzelhandelsflächen, wie sie in den Wiederaufbaujahren vorhanden war, gibt es nicht mehr – das darf niemanden wundern, wenn Fleischereien, Zeitungskioske und Wäschereien aussterbende Ladengattungen sind.

Anders als an der Seegefelder Straße, wo fast alle Läden vermietet sind, fällt das Urteil über Brauns Werk am Halemweg fast einhellig aus: Kann wegfallen. Da schwingt viel Frust mit – bei den Älteren, die über die holprigen Gehwegplatten stolpern, und den Jüngeren, die sich ein attraktiveres Umfeld für ihre Kinder wünschen.

Norman Braun, der daran glaubte, dass schöne Wohnungen dazu beitragen, einen besseren Menschen zu schaffen, würden solche Sätze schmerzen. Als Praktiker war er ebenso sehr an guten wie an schnellen Lösungen interessiert. Das hat er mitgenommen aus seinem Studium, das er 1931 bis 1937 an der Technischen Hochschule bei Heinrich Tessenow absolvierte. Von seinem Lehrer, der die Reformarchitektur mit schnörkellosem Ausdruck, glatten Flächen und Reduktion auf einfache geometrische Formen postulierte, hat er viel gelernt in Sachen Wohnungsbau. Tessenow entwarf Gartenstädte, ordnete Häusern kleine Gärten zu, stellte den Menschen in den Mittelpunkt. Markantes Beispiel seiner Architektur ist das Innenleben des Stadtbads Mitte in der Gartenstraße.

Aus dem Nobody wird eine Marke

Inspiriert durch Tessenows Anspruch entwarf Norman Braun während seines Studiums erste Einfamilienhäuser in Kladow, wo er mit seinen Eltern seinerzeit wohnte. Und er musste, um sein Studium zu verdienen, mitunter auf dem Bau als Handwerker arbeiten. Ein glücklicher Zufall war auch sein Job im Büro von Egon Eiermann, der in Berlin vor allem für den Neubau der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche berühmt ist. Im Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich Eiermann jedoch auf die Entwicklung von Industriebauten. An diesen Projekten arbeitete auch Norman Braun mit: dem Total-Werk in Apolda oder an Krankenhausbauten in Beelitz-Heilstätten.

Trotz dieser Erfahrungen bleibt Brauns wichtigstes Thema der Wohnungsbau. Seine große Stärke, die Kleinsiedlung, zeigt sich auch an der Otto-Suhr-Allee, Ecke Loschmidtstraße. Hier arbeitet Braun für einen Bauherrn, der ihm weitgehend freie Hand lässt: den Filmproduzenten Artur Brauner. Die Blöcke umschließen auch heute noch begrünte Hofflächen. Die Zäune, über die angeheiterte Bauarbeiter gerade ein leeres Blech-Bierfass kicken, passen nicht zum Ensemble, auch die Balkonverkleidungen sind zwar schick, aber nicht bauzeitlich. Doch auch hier sind die Nachbarn im Wesentlichen zufrieden, schätzen ihre großzügigen Wohnungen und fühlen sich wohl.

Auch einzelne Wohnhäuser in geschlossenen Straßenfronten stammen von Braun. Das in der Schlüterstraße 64 steht unter Schutz. Braun konzipierte das sechsgeschossige Haus – einst sozialer Wohnungsbau wie die meisten seiner Häuser – mit viel Glas zur Straße statt einer damals üblichen Lochfassade. „Die straßenseitigen Fenster nehmen die volle Wandfläche ein und gewährleisten so die maximale Beleuchtung trotz der engen Straße“, erläutert Norman Braun seinerzeit den Entwurf. Das zurückgesetzte siebte Geschoss wird über einen Laubengang auf dem Hof erschlossen. 13 Ein-Zimmer- und 13 Drei-Zimmer-Wohnungen bilden damals den Grundriss. Für jede der größeren Wohnungen gibt es einen Balkon.

Seine variablen Grundrisse setzt Braun noch konsequenter um bei seinem ersten Projekt jenseits des sozialen Wohnungsbaus. An der Heerstraße, Ecke Am Rupenhorn, konzipiert er 1957 eine kleine Siedlung aus Einfamilien-Gruppenhäusern zu je vier Wohneinheiten. Die Grundrisse sind vor allem im Erdgeschoss variabel: Eine von Ess- und Wohnzimmer separat gehaltene Küche war ebenso möglich wie die von Braun favorisierte Lösung: offene Wohnküche mit Ess- und Arbeitsplatz. Sieben Varianten legt Braun den Bauherrn für dasselbe Haus vor.

Im selben Stil errichtet er auch das Haus für sich und seine Familie auf dem Areal Am Rupenhorn 1b. Auch die kleine Siedlung der einstigen Gästehäuser des SFB ein Stück weiter trägt diese Handschrift. Braun hat sich bei diesen Entwürfen beeinflussen lassen von Einfamilienhäusern, die er in Skandinavien besuchen konnte. So viel Aufmerksamkeit erhalten die Gruppenhäuser an der Heerstraße, dass Braun eingeladen wird, seine Entwürfe im Deutschen Pavillon auf der Expo in Brüssel 1958 zu präsentieren.

Besonders an den Entwürfen an der Heerstraße sind aber nicht nur die Grundrisse, sondern auch die Finanzierung der Gebäude. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg plant Braun für den frei finanzierten Wohnungsbau. Die Euphorie darüber, dass dies nun wieder in Berlin möglich ist, spiegelt sich auch in den Ansprachen bei der Grundsteinlegung wider. Eine Euphorie, die mit dem Mauerbau 1961 wieder ausgebremst wird.

Vier Jahre sind vergangen zwischen der Fertigstellung der Siedlungen an der Seegefelder und der Heerstraße. Aus dem Nobody ist eine Marke geworden. Das zeigt auch der Anruf des Büros von Hugh Stubbins. Der US-Architekt, von dem die Entwürfe für die Kongresshalle stammen, fragte bei Norman Braun an, ob er nicht sein Berliner Kontaktarchitekt für das Projekt am Rand des Tiergartens sein wolle. „Mein Vater hat damals nur kurz überlegt“, erinnert sich Thomas Braun heute. „Er lehnte ab – das Projekt erschien ihm eine Nummer zu groß.“

Braun war nicht nur Praktiker, er war auch Realist. Und er wollte dem Thema treu bleiben, dem er seine meiste Aufmerksamkeit schenkte: dem Bau attraktiver Wohnungen für alle Teile der Bevölkerung. 1986 starb Norman Braun in Berlin. Geblieben sind zahlreiche Bauten, die von der Hoffnung erzählen, dass der Mensch sich verändert, wenn er schön und sicher wohnt.

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