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Architekturdebatte (3): Diese Stadt ist keine Insel mehr

Berlin fehlt es an übergreifenden planerischen Visionen. Wenn heute Projekte entwickelt werden, dann meist isoliert, ohne Perspektiven für die Nachbarschaft, ohne zu fragen: Was bedeuten sie für ganz Berlin?

Werden neue Projekte die Zukunft unserer Stadt sichern? Inseldenken beherrscht etwa die Planungen am Hauptbahnhof, am großen Freiraum um den Fernsehturm, am künftigen Humboldt-Forum, entlang der östlichen Spree, am Steglitzer Kreisel oder auf dem Areal des stillzulegenden Flughafens Tegel. Das ist heute vielleicht noch kein Problem, sicher aber morgen. Denn Berlin strebt auseinander: Die Bewohner der Innenstadt leben und wählen anders als die der Außenstadt, innen wie außen separieren sich Reiche und Arme. Berlin braucht Visionen, transparente Verfahren, Instrumente, Akteure, welche die ganze Stadt ins Auge nehmen. Ziel muss es sein, die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen unserer Stadt zu verflüssigen, den Zusammenhalt der Stadt zu festigen, Ideen auf den Weg zu bringen, welche die unübersehbare Stagnation überwinden und frischen Wind bringen. In der Stadtregion, die über die Grenzen Berlins hinaus bis ins Brandenburger Umland reicht, werden heute viele Weichen für die Entwicklung unserer Stadt gestellt. Auf dieser räumlichen Ebene müssen Antworten auf zentrale Fragen der Stadtentwicklung von morgen gefunden werden: auf den Klimawandel, auf soziale Umbrüche, auf die voranschreitende Zersiedelung, auf die neuen Bedürfnisse des Großstadtverkehrs.

Radikal Radial!

All diese Themen verdichten sich brennglasartig an den großen Ausfallstraßen, den Radialen, die unsere Stadtregion gliedern. Wie müssen große Straßen im Zeitalter postfossiler Mobilität aussehen? Wie kann der Brei aus Discountern, Drive-in-Restaurants, Verkehrsinfrastruktur und Wohnparks städtebaulich geordnet werden? Wie kann die Planung zwischen Berlin und Brandenburg für diese Räume – und speziell für die Wachstumszonen im Umfeld des neuen Flughafens Berlin Brandenburg – besser abgestimmt werden? Wie können in autoabhängigen Einfamilienhausgebieten lokale Zentren zur Nahversorgung gestaltet werden, die auch den Anforderungen einer älter werdenden Gesellschaft gerecht werden? Wie können die für die Berliner Identität wichtigen innerstädtischen Quartierzentren gestärkt werden, etwa an der Müllerstraße oder an der Karl-Marx-Straße? Wie kann dem zunehmenden sozialen Zerfall der Stadtregion in isolierte, introvertierte Kieze entgegengewirkt werden? Die Wiederbelebung der Radialen durch Projekte, die diese Fragen exemplarisch und experimentell beantworten, könnte Thema einer IBA 2020 für Berlin sein. Unser Vorschlag heißt deshalb „Radikal Radial“.

Radiale Vielfalt!

Vor der Industrialisierung war Berlin mit anderen Städten durch Überlandstraßen verbunden, die an den Stadttoren ihren Ausgang nahmen. Diese Straßen wurden während des Wachstums zu innerstädtischen Radialstraßen und Adern des öffentlichen Nahverkehrs. Neben den beiden Hauptzentren Berlins – der historischen Mitte und der City West – bilden sie den Fokus des ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Lebens der Großstadt, hier konzentrieren sich Geschäfte und Einrichtungen, Orte des kulturellen Lebens und markante Bauwerke. Keine Radiale gleicht der anderen, jede einzelne Radiale verändert in ihrem Lauf ständig den Charakter. Die Radialen bedienen die verdichtete Innenstadt, Siedlungen und Großsiedlungen, aber auch locker bebaute Vororte. Sie erstrecken sich über mehrere Stadtteile und Bezirke und sogar über die Landesgrenzen hinaus. Sie sind oft der „Salon“ der umliegenden Kieze, Ausdruck der dortigen sozialen Milieus. In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Radialstraßen einseitig für den Autoverkehr umgestaltet, wodurch das Leben dort immer unattraktiver wurde. Traditionell wichtige Nutzungen und Gebäude stehen zur Disposition: Kaufhäuser, Postämter, Markthallen etc. autoabhängige Einkaufszentren in Randlagen stellen die kleinen Einzelhändler auf eine harte Probe.

Radikal umdenken!

Berlin hat viele Radialen. Eine IBA kann, wie frühere IBAs auch, den zukunftsorientierten Umbau nur exemplarisch anpacken. Unser Vorschlag wäre, vielleicht zwei Radialen für eine IBA auszuwählen. Unbedingt eine im Norden, denn dieser Bereich wird nach der Rochade der Flughäfen an Gewicht verlieren. Hier bietet sich die Müllerstraße mit ihren Fortsetzungen an, einschließlich des Kurt-Schumacher-Platzes, für den sich nach der Schließung Tegels neue Chancen eröffnen. Und eine Radiale im Südosten, das Adlergestell oder die Karl-Marx-Straße, denn diese werden im Zuge des Flughafenausbaus neue Impulse erhalten. Darüber hinaus gibt es entlang weiterer Radialen einige Projektgebiete von strategischer Bedeutung, etwa den Bundesplatz, wo eine Bürgerinitiative bereits Vorschläge vorgelegt hat, das Umfeld des vor sich hin dämmernden Steglitzer Kreisels, den Platz der Vereinten Nationen oder den seltsamen Distanzraum zwischen der Marzahner Promenade und Alt-Marzahn. All diese Projekte können exemplarisch zeigen, wie attraktive Zentren gestaltet werden können, wie vergangener Reichtum reaktiviert und wie der Verkehr von morgen gestaltet werden kann – mit drastisch weniger Lärm und Feinstaub, mit mehr Straßenbahnen, Fahrradfahrern und Fußgängern. Ziel wäre nicht die Vereinheitlichung der Radialen, im Gegenteil: Aufgabe wäre es, den jeweils besonderen Charakter zu betonen. Solche Projekte können nur gestemmt werden, wenn viele Akteure an einem Strang ziehen, Bürgerinitiativen, die lokale Wirtschaft und Politik und Verwaltung. Hier müssen neue Wege gefunden werden, wie Planung über Bezirks- und Landesgrenzen hinweg unter Beteiligung verschiedenster Akteure organisiert werden kann.

Radikal international!

Eine IBA muss eine lokal bedeutende Botschaft vermitteln. Das aber genügt nicht, die Botschaft muss auch international wichtig sein. Schon jetzt lohnt der Blick nach London oder Paris: Auch diese Städte haben ihre großen Radialen – High Streets und Boulevards – als bedeutendes städtebauliches Handlungsfeld erkannt. In London werden durch die strategische Planungsabteilung des Londoner Bürgermeisters, Design for London, Konzepte erarbeitet, wie lokale Stadtteilzentren, Einzelhändler und Straßenmärkte gestärkt und wie Infrastruktur- und Tiefbaumaßnahmen geplant werden können, damit nicht nur technische Funktionsbauten, sondern auch für Fußgänger und Radfahrer attraktive Räume entstehen. Paris zivilisiert seine Boulevards mit dem Ausbau der Straßenbahn und der Umgestaltung zugunsten von Radfahrern und Fußgängern. Die Wiederbelebung der großen Radialen ist ein internationales Thema von großem Gewicht. Mit einer IBA zu diesem Thema kann Berlin wieder als Modellstadt des Städtebaus wahrgenommen werden.

IBA nicht um jeden Preis!

Eine IBA birgt für Berlin vielfältige Chancen: Zentrale Herausforderungen von Städtebau und Architektur werden auf hohem fachlichen Niveau mit internationaler Beteiligung diskutiert, bauliche Lösungen und neue Planungsprozesse werden durch Pilotprojekte und innovative Verfahren getestet, und Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft werden in ganz besonderer Weise eingebunden. Um diesen stadtplanerischen „Ausnahmezustand auf Zeit“, so der Architekturtheoretiker Werner Durth, zu rechtfertigen, bedarf es finanzieller Ressourcen und vor allem eines ganz besonderen Programms, das in der Politik und Stadtöffentlichkeit Unterstützung findet. Die Themen einer IBA müssen sowohl lokal verankert als auch international bedeutsam sein. Ein grundsätzliches Umdenken im Städtebau muss im Vordergrund stehen, es müssen langfristig gültige und widerstandsfähige Botschaften für die Stadt von morgen erarbeitet werden. Nur dann kann ein Programm für sich das Label IBA reklamieren. Die Radialen wären der geeignete Ort für ein solches IBA-Programm 2020.

Letzte Folge Dienstag, 5. Juli: Stadtplaner Thomas Sieverts, München

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