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Berlin: Armen Kindern fehlt es nicht nur an Geld

Mangelnde Betreuung und überforderte Eltern verschärfen das Problem materieller Benachteiligung

Armut hat viele Gesichter, und Mangel an Geld ist nur eines davon. „Das größte Armutsproblem ist das Zeitproblem“, sagt Pfarrer Bernd Siggelkow vom Hellersdorfer Jugendzentrum „Arche“. In das Jugendzentrum kommen täglich nach der Schule rund 160 Kinder, die woanders keine warme Mahlzeit bekommen – insbesondere nicht zu Hause. Längst nicht alle von ihnen sind arm. „Niemand hat mehr Zeit für die Kinder, dabei kann Familie durch nichts ersetzt werden“. Um die Familie zu ernähren, müssten oft beide Elternteile arbeiten, denn ein Einkommen reiche meist nicht für alle. Automatische Folge: Die Kinder sind auf sich allein gestellt. In diesem Falle mangelt es weniger an Geld als an Zuwendung.

Das gilt genauso für Eltern, die arbeitslos sind und eigentlich genug Zeit hätten, sich um ihre Kinder zu kümmern – sie schaffen es in vielen Fällen nicht.Eher suchten sie Ablenkung im Dauerfernsehen, manche haben Alkoholprobleme. „Vielen macht ihre eigene Perspektivlosigkeit so sehr zu schaffen, dass sie wie gelähmt zu Hause sitzen“, hat Siggelkow beobachtet. Unter den Besuchern der „Arche“ ist zum Beispiel auch die 17-jährige Jacqueline, die sich um ihre vier jüngeren Geschwister kümmern muss, obwohl die Mutter arbeitslos ist. Andere Eltern geben ihr Geld falsch aus – statt gesundes Essen und Schulbücher für die Kinder kaufen sie große Fernseher und DVD-Recorder.

Überforderte Eltern, zu wenig Betreuung – die Jugend- und Familienpolitikerin der Grünen, Ramona Pop, sieht wachsende Verwahrlosung, und zwar nicht beschränkt auf die Armen. Das Betreuungsangebot in Berlin sei schon gut, reiche aber nicht. Ein erster Schritt sei die Ganztagsgrundschule mit Kantine, die in Berlin eingeführt werden soll. So sei wenigstens sichergestellt, dass die Kinder etwas zu essen bekommen. Im Grunde, meint Pop, müsse aber schon viel früher angesetzt werden. Viele Kinder seien noch bei der Einschulung ungeimpft und hätten noch nie einen Zahnarzt besucht. Die Kita solle deshalb nicht nur reine Kinderbetreuung bieten, sondern mehr als Familienberatung fungieren.

Gerade erst wurde der „Kinderreport 2004“ des Kinderhilfswerks vorgestellt, nach dem in Berlin jedes vierte Kind in Armut lebt, bundesweit nur jedes siebte. Als arm gilt ein Haushalt, der weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Die Sprecherin der Senatssozialverwaltung, Roswitha Steinbrenner, kennt nur ein Mittel, das die Lage der Familien verbessern würde. „Dafür braucht man Existenz sichernde Arbeit, und davon gibt es zu wenig“, sagte sie.

Materielle Armut führt zu sozialer Armut, die Kinder sind isoliert, wenn sie nicht zu Geburtstagsfeiern und auf Klassenfahrten können, und sie werden ausgegrenzt, wenn sie nicht die richtige Kleidung und das angesagte Spielzeug haben. Arme Kinder haben weniger Zugang zu Bildung, machen schlechtere Schulabschlüsse und kommen aus dem Kreislauf der Benachteiligung nicht heraus. Sie sind bei schlechterer Gesundheit, haben öfter Karies und Übergewicht. So ist Armut am Ende teuer für die ganze Gesellschaft.

Fatina Keilani

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