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Berlin: Arne Primke (Geb. 1975)

Aber wirklich vorstellen konnte sie ihn sich nur als Raumfahrer

Es war beim Sport, beim Basketball. Er stand auf dem Spielfeld, sie saß auf der Bank. Vielleicht würde sie eingewechselt werden, vielleicht auch nicht. Er war einer von denen, die immer am Ball sind. Und so einer sprach sie an, gewissermaßen aus der Mitte des Spiels heraus, das war in der Zwölften, 1991. Dass die zwölften Klassen des Andreas-Gymnasiums am Ostbahnhof zusammen Sport hatten, war neu.

Sie weiß nicht mehr, was er zu ihr gesagt hat, aber das war auch nicht wichtig. Überwältigend war, dass ein solcher Typ sie wahrnahm. Manchmal neigte sie dazu, ihre Position beim Basketball nicht für zufällig zu halten. War sie nur eine Reservespielerin des Lebens? Offenbar nicht, Arne war der Beweis. Wusste sie damals eigentlich schon seinen Namen?

Sie grüßten sich, wenn sie sich sahen, und dann war er plötzlich weg, umgezogen wahrscheinlich.

Jahre später, die Schule war längst vorbei, sind sie sich wieder begegnet, nachts in einem Club. Sie beschlossen, den Zufall als Zeichen zu nehmen. Arne war gut im Empfangen von Zeichen, im Senden auch, das wusste sie, schließlich hat sie es selbst erfahren. Er lebte und liebte im Plural, wahrscheinlich hat sie es gar nicht anders erwartet. Aber war sie je so sichtbar gewesen wie jetzt? Wofür ich Arne danke: seine Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Zuwendung, Aufmunterung, Bestätigung, das Zeigen, wie das geht, eine Beziehung zu führen, auch wenn sie wohl intensiver und wahnsinniger war als die meisten. Arne war vor 20 Jahren mein erster Freund und nun bin ich seine letzte Freundin. Das ist ein schöner Gedanke, bei aller Traurigkeit. Das wird sie nach seinem Tod notieren.

Die Schule optimiert das Mittelmaß, Arne Primke hat sie nie ohne einen gewissen Vorbehalt besucht und mit der Zerstreutheit und dem geschärften Realitätssinn von begabten Menschen, die wissen, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt, als zur Schule zu gehen. Zur Strafe hat die Schule ihn die zwölfte Klasse wiederholen lassen, da wohnte er schon in Lichtenberg. Es wunderte sie nicht, als er es ihr erzählte. Auch nicht, dass es am Ende nicht ganz gereicht hatte fürs Abitur; er bekam es aber trotzdem, weil die Aussicht, Arne Primke würde auch noch die 13. Klasse wiederholen, seine Lehrer noch mehr erschreckte als den Schüler selbst. Er hatte etwas leicht Destruktives, wenn er sich langweilte.

Arne gehört zu den Menschen, die alles schaffen, alles werden können, das hat sie immer geglaubt. Aber wirklich vorstellen konnte sie ihn sich nur als Raumfahrer. Er teilte diese Vorstellung durchaus, doch das All konnte warten, die Zukunft hatte Zeit. Sie waren beide Anfang zwanzig, das Leben war nichts als der offene Horizont vor ihnen: Erst die Erde, dann das All! Später würde er auch einen Porsche fahren, einen Porsche Targa, diesen und keinen anderen, später, wenn er sich eine Fahrerlaubnis leisten kann.

Natürlich konnte Arne Primke längst Auto fahren, aber um sein Geld in den offiziellen Nachweis dieser Fähigkeit zu investieren, war es ihm zu schade.

Wo er war, war die Mitte, die Mitte irgendeiner Welt. Sie liebte den Aufenthalt an seiner Seite und doch wusste sie, dass dieses Leben einen Preis forderte.

Er hat sich verschwendet ohne Rücksicht auf sich selbst. Immer volle Kanne, aber nie in die richtige Richtung.

Doch gibt es das denn: die richtige Richtung? Wer die eine wählt, entscheidet sich schon gegen die übrigen. Und wer eine Frau wählt, selbst wenn es die richtige ist, entscheidet der sich nicht gegen alle anderen?

Nach einem halben Jahr war es vorbei. Am Abend vor ihrer Fahrprüfung rief er an, sie würden sich nie aus den Augen verlieren, aber ... Sie verstand sofort – und bestand die Prüfung trotzdem. Es war eine große Traurigkeit in ihr, aber auch Erleichterung: Ab jetzt würde sie ein paar Gänge rausnehmen, langsamer leben.

Arne meldete sich jedes Jahr, manchmal öfter. Fast war es schöner so. Sie sprachen jedes Mal lange und gut. Noch hatte er keine Zeit gefunden, das Studium der Luft- und Raumfahrt zu beginnen: Wer sich nicht bewirbt, kann auch nicht abgelehnt werden. Arne Primke lebte also in der Blüte der eigenen unenttäuschten Möglichkeiten.

Dafür hatte er sich in Ilmenau für „Angewandte Medien- und Kommunikationswissenschaften“ eingeschrieben, nichts Ernstes also, eine eher ironische Unternehmung. Auf Fragen der Form „Was machst du?“ kann man schwer antworten: Ich lebe! Den Satz „Ich studiere!“ dagegen versteht jeder. Arne schloss dieses Studium sogar ab, das fand sie fast ein wenig übertrieben, sie vermutete die Beharrlichkeit einer Frau dahinter. Oder Olympus, der Kamerahersteller, hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er einen Vertreter mit Diplom vertrauenswürdiger findet als einen ohne.

Von Olympus lebte er: Arne Primke fuhr von Messe zu Messe, sogar bei Formel-1-Rennen offerierte er die Produkte. Er war ein guter Verkäufer, er brauchte kein Studium fürs Kommunizieren. Sie bewunderte, wie er auf Menschen zuging, wie er mit dem derangiertesten Obdachlosen genauso selbstverständlich sprach wie mit dem Konzernchef. Vielleicht gibt es so viele verschiedene Sprachen, wie es Menschen gibt. Er kannte sie alle.

Und dann, mit 27 Jahren, war plötzlich alles vorbei. Von einem Tag auf den anderen ging der Horizont unter. Die Diagnose lautete: schwere Diabetes. Er war Sportler, er hatte sich immer auf seinen Körper verlassen können. Und jetzt? Ein Leben, diktiert vom Insulin, von der Spritze am Morgen und der Spritze am Abend? Sein Körper, Quelle allen Genusses, wurde zum Gefängnis. Ein Zuckerkranker: Das ist doch keine Identität!

Arne hatte eine Traurigkeit in sich, die ich von mir kenne, und die korrespondierte, weswegen wir uns immer schon gut verstanden haben. Diese Traurigkeit verbindet, man kann sie nutzen und formen – wenn man es denn tut.

Die Wirklichkeit: Was für ein diktatorischer Begriff! Er begann sie zu meiden. Sie kamen einander wieder nah, ganz nah diesmal. Wo zwei Menschen sind, entsteht eine eigene Welt. Und wie galt das erst für sie. In Erinnerung wird mir bleiben, wie wir wie ein normales Paar in Motzen Tandem gefahren sind und Ruderboot und Baden waren – ganz normal. Wie wir auf dem Grundstück meiner Eltern waren - unser einziger gemeinsamer Urlaub – wenigstens einer. Sie mochte seine Sommersprossen nach der Sonne, aber oft ertrug er dieses Gestirn nicht. War der helle Tag nicht Hohn und Lüge, zu viel Erinnerung an das Leben?

Meistens gingen sie zu Hause ins Exil, blieben ganz bei sich. Kochen und Filme sehen. Es kam ihr vor, als kenne er alle, er liebte das Kino. Wofür ich Arne danke und wofür ich ihn liebe: Steak richtig gut hinkriegen, Soßen zaubern, mich zum Lachen bringen, über meine Witze lachen, seine Freude über mein Lächeln. Und immer wieder die Notaufnahme. Alkohol und Insulin sind keine gute Mischung. Mal wollte er, mal sah er die Notwendigkeit ein, mal haute er wieder ab. Und immer wieder hoffen, bangen, hoffen, enttäuscht sein, hoffen ...

Souverän ist, wer lacht. Nie die Deutungshoheit über sich und die Welt verlieren, nicht mal in der Notaufnahme. Auch dafür, dafür vor allem, hat sie ihn geliebt. Wenn du erst ausgenüchtert bist, hat sie einmal einen Satz begonnen, und er antwortete: Ich will aber nicht ausnüchtern! In dem Augenblick hat sie es verstanden.

Also könnte er doch jetzt anfangen zu studieren, diesmal richtig, führte sie den Gedanken etwas versetzt weiter. Einmal waren wir in einem Flugsimulator, mein Weihnachtsgeschenk letztes Jahr für ihn, – Arne ist geflogen in einem echten Cockpit mit echter Simulation in Originalgröße.

Den Über-Mut, den man braucht für jeden neuen Anfang, er fand ihn nicht mehr. Er glaubte nicht, dass ihm noch einmal Flügel wachsen könnten wie den Comic-Superhelden seiner Kindheit, die das Nicht-Kind trotzig weiterliebte.

Zuletzt hat er im „Mediamarkt“ gearbeitet, von einer Agentur in diese lichtlosen Hallen gestellt, auf Provisionsbasis, bis er es nicht mehr ertrug. Depression und Agoraphobie, lauteten die Befunde.

Als ihr Vater 65 wurde, lud er sie ein, mit ihm auf den höchsten Berg Bulgariens zu steigen. Sie hatten das schon einmal gemacht, natürlich konnte Arne nicht mit. Eine Woche würde sie weg sein, von der letzten Berghütte unter dem Gipfel schickte sie ihm eine SMS. Er hat sie wohl nicht mehr gelesen. Alkohol und Insulin.

Er hätte den Notruf wählen müssen. Oder den Freund anrufen, der nach ihm sah. Musste er das wirklich?

Arne war kein Krieger. Er war ein Liebender und ein Zauberer.

Und sie stand 2925 Meter über dem Meer.

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