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Touristen und Stadtentwicklung: Attraktion Wildwuchs

Die Touristen haben die Stadt verändert – und das ist ihr insgesamt nicht schlecht bekommen.

Es ist das alte Lied der Stadtentwicklung. Bestimmte Quartiere steigen auf, weil sie sich soziologisch vielfältig entwickeln, verjüngen und Außenstehenden plötzlich als attraktiv gelten. Für eine Weile entsteht eine ausgewogene Mischung von Leben, Gewerbe und Einkauf, die scheinbar eine optimale Balance verkörpert, dann kippt die Lage allmählich: zu viel unruhiges Nachtleben, zu viele Touristen. Die Idee vom permanenten Gleichgewicht hat sich als Fiktion erwiesen, die Szene zieht weiter, die Touristen bleiben vorerst da.

Doch ist das schädlich für das jeweilige Quartier? Touristen stehen für Belebtheit, Offenheit, Sprachgewirr, ihre Anwesenheit ist das beste Mittel gegen dunkle Ecken. Mit ihnen kommt die Verjüngung der Bausubstanz, es entstehen Hotels in einst verfallenen Altbauten, modische Restaurants öffnen und schließen, die Läden verändern ihr Angebot. Das wird, wie sich jetzt in Kreuzberg zeigt, nicht von allen Anwohnern als positiv gewertet – aber wie sähe die Alternative aus?

Die Attraktivität Berlins beruht auf der Lebendigkeit der Stadt, die ohne permanente Veränderung nicht zu haben ist. Die Oranienburger Straße ist ein Beispiel für die Attraktivität, die ungeplanter Wildwuchs entfalten kann. Es war die exotische Verworfenheit des Straßenstrichs vor Mietshausruinen, die Gaffer aus der ganzen Welt anzog und den zweifelhaften Ruf der Stadt als Erlebnismetropole begründen half.

Doch hätte irgendjemand ernsthaft dafür plädiert, diesen Zustand auf Dauer zu bewahren? Folglich veränderte sich die Oranienburger in Richtung Kneipenmeile und wird auf lange Sicht eine eigene Identität als Bindeglied zwischen Friedrichstraße und Hackescher Markt finden müssen; hässliche Baulücken werden verschwinden, auch das ist eine Folge des Aufstiegs – und der ist die einzige Alternative zum Abstieg. Die Verwaltung kann und sollte nicht mehr tun, als diesen Prozess behutsam zu steuern, wenn dafür überhaupt Ansatzpunkte bestehen.

Ein ähnlicher Brennpunkt ist der belagerte Checkpoint Charlie, wo in der Touristensaison – also immer – kaum noch durchzukommen ist. Wer sich noch an den Dornröschenschlaf dieser Ecke zu Mauerzeiten erinnert, der wird das aber kaum beklagen wollen. Was könnte es Schöneres für eine Stadt geben, als junge Menschen aus der ganzen Welt anzuziehen, die sich für ihre Geschichte interessieren?

In diesem Licht ist es kurios, wenn ein kellnernder Buchhändler, wie jetzt auf der aktuellen Diskussionsrunde, die Tatsache beklagt, dass in seiner Bar kaum noch jemand deutsch spreche. Möchte er zurück zu den Eckkneipen der angetrunkenen Rentner, die sich über die vielen türkischen Geschäfte beklagen? Der Wrangel-Kiez hat nie ein „Gleichgewicht“ gekannt, und er wird auch nie eins erreichen. Aus der nach Braunkohle riechenden Kleine-Leute-Gegend der Nachkriegszeit wurde Klein-Istanbul mit zugezogenen Hausbesetzern als Untermieter, die sich die Kiez-Aufsicht anmaßten und gegen unliebsame Zuzügler, Läden, Restaurants auch gewaltsam vorgingen. Dann verlagerte sich das Interesse lange Zeit auf die neuen Szene-Bezirke im Ostteil der Stadt, und nun ist das Pendel mit Wucht zurück.

Viele Touristen sitzen nun im einst heiß umkämpften McDonald’s, ohne zu wissen, dass daran mal das Schicksal Kreuzbergs zu hängen schien. Heute ist klar: Kreuzberg lebt. Und schöner als eine Tankstelle oder Brachland ist das Restaurant allemal. Bernd Matthies

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