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Berlin: Auch Tanzen hat nicht geholfen

Noch am Nachmittag lautete in Kreuzberg das Hoffnungsmotto: Wir feiern den Krawall kaputt. Anfangs schien es sogar zu gelingen. Anfangs.

Das war’s dann wohl. Ein schöner Plan, er hat leider nicht funktioniert. Der Besitzer der „Boca“-Kaffeebar in der Naunyn-, Ecke Mariannenstraße reagiert sofort, als die ersten Steine fliegen. Gegen 20.20 Uhr werden eilig Tische und Stühle von der Straße geräumt, die Fenster durch Holzplatten geschützt. Auch die umliegenden Zeitungsläden, gerade noch offen, machen blitzschnell dicht. Aus der Traum vom friedlichen 1. Mai.

Kurz zuvor sah das Bild auf den Straßen noch ganz anders aus. Ein trügerisches Idyll: Sie hatten schon Nerven, der Vater mit dem winzigen Sohn an der Hand. Die junge Mutter, die ihren Kinderwagen durch das Getümmel am Mariannenplatz geschoben hat. Keine Angst vor Randale? Vorm Polizeikessel? Vor Wasserwerfern? Die Mutter winkte gelassen ab. „Wir halten uns am Rand. Sollte die Randale losgehen, sind wir ganz schnell weg.“ Da musste sie dann aber bald schon sehr schnell weg sein.

Bis 20 Uhr war noch alles friedlich im Dreieck zwischen Oranien-, Heinrich- und Mariannenplatz. In diesem Jahr sollte sie ganz ausfallen, die Kreuzberger Traditions-Randale. Das Hoffnungsmotto: Die Anwohner feiern den Krawall kaputt. Mit einem Friedensfest, mit Live-Konzerten, Trommeln und Feuerakrobatik. „Je mehr Menschen am Abend des 1. Mai auf der Straße sind, desto eher bleiben die üblichen Krawalle aus“, wünschte sich die PDS-Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer.

Am Mariannenplatz ging die Party – wie jedes Jahr – bereits mittags los. An den Ständen fächelten Männer ihre Kohle glühend, zwischen den Rauchschwaden riecht es nach Bratwurst, Lamm und Bifteki. Punks prosteten den Tanzenden von ihrer Decke aus zu, lassen einträchtig die Weißweinflasche kreisen. „So könnte es bleiben“, seufzte einer selig in der Sonne. „Ich glaube aber nicht dran.“

Wie auch? 1987 flogen am 1. Mai zum ersten Mal die Steine, seit 15 Jahren immer. Die Geschäftsleute an der Oranienstraße haben mittlerweile eine gewissen Krawall-Routine entwickelt, schon gestern ließen die meisten die Jalousien runter und die Gitter hoch. Am Oranienplatz hatten sie die Schaufenster mit Holzplatten zusätzlich verrammelt.

Pace – an fast jedem Haus flatterte in der Oranienstraße die Friedensfahne im Wind. Am Abend wurde die Menge immer dichter, alle 200 Meter stand eine Bühne für Live-Musik. Die Bar „Molotow-Cocktail“ hatte rote Sessel auf den Bürgersteig geschoben, auch im Café nebenan blieb kein Platz unbesetzt. Vorm Schlüsseldienst grillten sie Fisch, beim Frisör „Haarschlächterei“ gibt es Bier und Caipi vor der Tür. „Keinen Bock auf Stress“, sagt eine junge Frau, „vielleicht klappt’s ja so.“ Die Geschäfte zählten zu den rund 30 Standhaften, die ihre Restaurants und Kneipen nicht verrammelt hatten. Weil sie der Gewalt nicht weichen wollten. Weil sie die Aktion „Myfest“ der IG Oranienstraße unterstützen – wie die vielen Nachbarn im Kiez.

Die mussten am frühen Morgen erstmal ihre Autos in Sicherheit bringen, sich dann durch mehrere Polizeiabsperrungen schlängeln. „Ich kann diese Jungs nicht mehr sehen“, sagt eine Anwohnerin und beschreibt in knappen Worten ihre „Lieblings-Demonstranten“: schwarze Mütze, schwäbischer Dialekt, Stadtplan in der Hand und höflich fragend: „’Tschuldigung, wo geht’s denn hier zum Epizentrum?“ Am Abend war solch eine Frage längst überflüssig geworden.

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