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Der Alexanderplatz ist das erweiterte Wohnzimmer für etliche Kinder und Jugendlichen, die in Berlin auf der Straße leben sollen.

© dpa

Auf der Straße in Berlin: Die Kinder vom Bahnhof Alexanderplatz

Die Jungs haben Gesichter von Greisen und kindliche Augen, die Mädchen rasierte oder bunte Haare. 3000 Jugendliche leben in Berlin auf der Straße – auch mitten im Zentrum. Nicht wenige rutschen ab.

Der Alexanderplatz ist ein flüchtiger Ort. Tag für Tag geht hier alles seinen Gang: Menschen steigen aus, um, kaufen ein, hetzen weiter, bleiben stehen, aber nur kurz. Es gibt aber auch junge Leute, die länger bleiben, kleine Ewigkeiten. Für sie ist der größte Platz Berlins ihr Zuhause. Der zugige Ort im östlichen Stadtzentrum ist das erweiterte Wohnzimmer für etliche der geschätzt etwa 3000 Kinder und Jugendlichen, die alleine in Berlin auf der Straße leben sollen. Einige von ihnen gelten seit Jahren als „vermisst“.

Lele heißt im wirklichen Leben anders. 13 Jahre alt, mandelförmige Augen, violett schimmerndes schwarzes Haar. In der Dezemberkühle verbirgt sie ihr Gesicht unter einer Kapuze. Lele ist seit gut vier Monaten auf dem Alex, wie sie sagt. Davor hat sie in einem Heim gelebt. „In der Schule stehe ich kurz vor einem Rausschmiss wegen der vielen Fehlstunden“, sagt sie; für einen Moment wirkt sie beinahe erschrocken über ihre Worte. Ansonsten lächelt sie, auch wenn sie über Trauriges berichtet. Vom ewigen Kleinkrieg zwischen den Eltern und der Scheidung vor einem Jahr. Von der Mutter, die ihr Glück inzwischen mit ihrem neuen Lebensgefährten gefunden hat, mit dem weder Lele noch ihre Geschwister zurande kommen. Vom Vater, dem öfter die Hand ausgerutscht ist, wenn er nicht weiter wusste – zuletzt gab es oft Prügel. „Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten.“ Und nun? Lele hält eine Flasche Bier in der Hand und zuckt die Schultern. Wer weiß das schon? Nur nicht zurück.

Familiäre Konflikte, Verwahrlosung, Gewalt

Während die junge Ausreißerin mit ihren sogenannten Freunden am Alex abhängt, wird im bunt getünchten Kinder- und Jugendhaus Bolle in Marzahn-Hellersdorf gerade der Kleinbus von „Straßenkinder e. V.“ mit Lebensmitteln und Heißgetränken für die nächste Fahrt zum Alexanderplatz beladen. Die Sozialarbeiter Tine und Basti, wie sie sich rufen, nehmen von Koch Ronny einen großen Kessel in Empfang. Heute gibt es Laucheintopf. Rund 120 Mahlzeiten werden hier am Tag für die Jugendeinrichtung und für die Straßenkinder zubereitet. Bis zu 100 Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien kommen täglich zum Essen und zur Betreuung ins Kinder- und Jugendhaus. Es bietet vielen, neben Hausaufgabenbetreuung und Freizeitangeboten, die einzige Aussicht auf eine warme Mahlzeit.

Lele kommt nicht aus einem bildungsfernen Haushalt, sie besucht sogar eine konfessionelle Privatschule, wie sie sagt. In vielerlei Hinsicht weist ihre Biografie dennoch die typischen Merkmale von Kindern auf, die auf der Straße gelandet sind. Familiäre Konflikte, soziale wie emotionale Vernachlässigung, Überforderung, Verwahrlosung, Missbrauch oder Gewalt sind nur einige der Gründe, weshalb Kinder die Flucht antreten. Dies kommt auch in den sogenannten besseren Schichten vor, sagt Eckhard Baumann. Der Vorsitzende vom Straßenkinder-Verein weiß: „Dem Entschluss, wegzulaufen, geht in der Regel eine lange Leidensgeschichte voraus.“

Die meisten Straßenkinder sind gerade in der Pubertät. Mit 12, 14, 16 hauen sie ab. Die meisten freiwillig, manche werden von den Eltern vor die Haustüre gesetzt. Viele leben nur vorübergehend auf der Straße, doch die Zahl derjenigen, die bleiben, nimmt zu, sagt Baumann. Auch die Anzahl von Mädchen steigt kontinuierlich an.

Viele der Jugendlichen haben zunächst eine naive und idealisierte Vorstellung vom „Leben auf der Platte“, wie sie es nennen. Den Schritt betrachten sie als einzige Möglichkeit, um dem Stress zu Hause zu entkommen. Den Zwängen der Gesellschaft, der Schule. Doch draußen warten Gefahren. Die Jugendlichen können krank werden, die Krätze bekommen; Übergriffe sind nicht selten. Im Winter können sie erfrieren. „Im vergangenen Winter haben wir 250 Schlafsäcke verteilt“, sagt Sozialarbeiterin Tine. Für die Helfer gilt es vor allem, die Kinder schnell wieder von der Straße zu holen, denn viele sind noch minderjährig. „Dabei orientieren wir uns an dem Machbaren“, sagt Tine. Wenn das Verhältnis zu den Eltern zerrüttet ist, mache ein Zurück wenig Sinn. Eher schon betreutes Wohnen, einzeln oder in Gruppen.

Die Streetworker fahren regelmäßig die Treffpunkte der Szene an: Alexanderplatz, Ostkreuz, Ostbahnhof, Treptower Park, Zoo, Wilmersdorfer Straße, Schönhauser Allee, Hermannplatz, Kottbusser Tor. Immer wieder finden sie neue Gesichter unter alten Bekannten. Nicht einfach, unter diesen Verhältnissen das Vertrauen der „Klienten“ zu gewinnen, wie die Streetworker sie nennen. Gerade jetzt, vor dem Einbruch der Winterkälte, geht es verstärkt darum, sichere Unterkünfte zu vermitteln. Denn die Jugendlichen haben maximal Anspruch auf zwölf Nächte in einer Notunterkunft der Kirche oder der Stadt. Danach muss jeder selber sehen, wo er bleibt.

Oft werden die Gefühle mit Alkohol und Drogen betäubt

Zum Leben auf der Straße gehören oft Selbstzweifel, Einsamkeit, Scham, Wut. Oft werden die Gefühle mit Alkohol und Drogen betäubt. Eine Abwärtsspirale, die einen Ausstieg aus der Szene mit jedem zusätzlichen Monat auf der Straße in weitere Ferne rücken lässt. Viele der Jugendlichen rutschen in die Beschaffungskriminalität ab, Mädchen und junge Frauen auch in die Prostitution. Nicht wenige haben ein Vorstrafenregister.

An der Essensausgabe vor dem Bus am Alexanderplatz hat sich am Abend eine Gruppe von rund 20 jungen Männern und Frauen versammelt. Schwere Jungs, mit den Gesichtern von Greisen und den Augen von Kindern. Mädchen und Frauen mit rasierten oder bunt gesträhnten Haaren. Vielen sieht man die gegenwärtige Lebenssituation nicht unbedingt an. Die meisten könnten glatt als ganz normale Jugendliche durchgehen, die sich zu früher Stunde auf dem Weg zur Party machen. Während die Straßenbeleuchtung den Asphalt in ein nass glänzendes Licht taucht, rückt die Gruppe enger zusammen, um Neuigkeiten auszutauschen. Straßenfunk. Wo gibt es neue Schlafmöglichkeiten, wo steht ein Haus leer, wo findet man Ablüftungsschächte über Tiefgaragen? Wo gab es zuletzt Stress? Und vor allem: Wo kriegt man jetzt noch Winterschlafsäcke? Unter den Wohnungslosen wird geklaut, erzählt ein Betroffener, der seinen Namen nicht nennen will. Auch vor den letzten warmen Decken wird nicht Halt gemacht.

Slim hat heute mal gute Nachrichten. Der Halbtunesier steht am Bolle-Bus und erzählt stolz, dass er gerade seinen ersten eigenen Mietvertrag unterschrieben hat. Mehr als drei Jahre hat Slim auf der Straße gelebt. Als Punkrocker, als Schnorrer auf dem Alexanderplatz. Als Übernachtungsquartier diente ihm lange die ehemalige Eisfabrik am Ostbahnhof, in der auch viele Wanderarbeiter aus Europa lebten und die jetzt geräumt werden soll. Schließlich verdingte sich Slim als Dealer und Kleinkrimineller, bis er wegen gefährlicher Körperverletzung ins Gefängnis kam, wie er erzählt. „In dieser Zeit hatte ich zum ersten Mal Gelegenheit zum Nachdenken“, sagt Slim. Und er dachte um, fing neu an. Nach dem Knast nahm er am betreuten Einzelwohnen teil. Die Sozialstunden in der Küche eines sozialen Trägers in Friedrichshain leistete er anfangs widerstrebend, später gerne. Jetzt hat er ein sechsmonatiges Praktikum in der Gastronomie vor sich. Er koche total gerne, sagt Slim, „keine Sterneküche, eher was Bodenständiges“.

Alicia Rust

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