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Berlin: Aufruhr im Kreuzberger Kiez

In der Bergmannstraße entsteht ein Medizinzentrum mit Supermärkten. Viele Anwohner sind dagegen

Noch glitzert die Sonne in den bunten Kerzengläsern im Hofatelier „Lunamaro“ an der Bergmannstraße. Bald jedoch wird hier weniger Licht einfallen, denn auf der anderen Straßenseite soll in rund zwei Jahren Bauzeit ein sechsgeschossiger Gebäudekomplex in die Höhe wachsen: In der beliebten Flaniermeile am Kreuzberger Chamissokiez werden Anfang März die Bauarbeiten beginnen – für ein Gesundheitszentrum mit Arztpraxen, medizinischem Zubehör, Wellness, Supermärkten, Gastronomie sowie einer Tiefgarage mit 112 Stellplätzen. Das Bauprojekt in und um das denkmalgeschützte Bewag-Umspannwerk hinten im Hof, für das die Bezirksverordnetenversammlung gestern Abend mit großer Mehrheit grünes Licht gab, entzweit die Geister.

Ortstermin in einer der Vorzeigestraßen Berlins. Am Flachbau an der Bergmannstraße 5-7 hängt eine alte Einkaufstasche an der Tür – vor zwei Jahren war hier noch ein Reichelt. Der Name des Supermarktes ist durchgestrichen, darüber steht in dicken Lettern: Neu. Doch der CD- und Plattenladen, der als Zwischennutzer einzog, muss jetzt ebenfalls raus: In Kürze rücken Arbeiter mit schwerem Gerät an, das Reichelt-Gebäude und die „Habelsche Trinkhalle“ links davon werden abgerissen – anders als beim Umspannwerk besteht hier kein Denkmalschutz.

30 Millionen Euro wird die Investorengemeinschaft Wabe in das Projekt investieren. Im fünfzig Meter breiten Neubau sollen 2008 im Untergeschoss zwei Supermärkte eröffnen. Und zwar Kaiser’s und Plus, die aus den Läden nahe der Marheinekehalle in das Ärzte- und Gesundheitszentrum umziehen. In den Stockwerken darüber können bis zu 25 Praxen, Labors, Klinikbetriebe mit bis zu 50 Betten, Physiotherapeuten und auch Apotheken eröffnen. Etliche Ärzte aus der Umgebung werden dort einziehen, sagt Willo Göpel, Sprecher der Investorengemeinschaft. In der alte Warte auf dem Hof soll ein Gastronomiebetrieb eröffnen, in das sanierte Umspannwerk kommen Fitness-, Yoga- und Wellnessanbieter. Mehr als die Hälfte aller Flächen sei bereits vermietet, „eine hohe erfolgversprechende Zahl“. Nach dem Nutzungskonzept dürfen nur medizinische Anbieter einziehen – und keine kleinen Kunst-, Kultur-, Szeneläden und Cafés wie draußen auf der Straße.

Nicht jeder ist über die Konkurrenz erfreut – schräg gegenüber dem Baugelände befindet sich ein Penny-Discounter; auch eine Ärztegemeinschaft residiert dort. „So ein Klotz gehört an den Mehringdamm, aber nicht in eine so lauschige Ecke.“ So sieht das Maik Guschmann, Verkäufer des „Recordstore“ im alten Reichelt. Im Laden wird oft über den Bau geredet – viele Anwohner befürchten Lärm sowie ein Verkehrschaos wegen der Liefer- und Krankenwagen. Schon jetzt fänden Zulieferer für Penny keinen Parkplatz; Anwohner halten in zweiter Reihe. 7800 Autos schlängeln sich an einem Tag durch die Bergmannstraße, haben Zählungen der Investoren-Gutachter ermittelt – 1000 sollen künftig dazukommen. Gegner sagen, es werden weit mehr Autos an der Ausfahrt-Ampel warten.

Der grüne Baustadtrat Franz Schulz hat sich nun Zuspruch und Unmut zugezogen, etwa bei den vielen Bürgerbeteiligungstreffen. Schulz betont, dass die Bebauungsdichte recht gering sei; dass das Medizin- und Wellnesszentrum die Attraktivität des Quartiers erhöhen und Gewerbetreibende nicht verdrängen werde. „Und wir rechnen auch nur mit zwei, drei Krankenwagen pro Tag.“ Zudem hätten die Bezirksvertreter ein Mitspracherecht bei der Gestaltung der Fassade – sie soll das Haus optisch in drei Teile verkleinern. Schulz selbst hält ein berlintypisches Stahlglasbeton-Einerlei für die Bergmannstraße für nicht geeignet. Bauprojektsprecher Göpel kann sich vorstellen, dass die Projektarchitekten das ähnlich sehen – kann sich aber zugleich über „diese strukturkonservativen Einstellungen“ fast ein wenig amüsieren: Da favorisieren progressive Linke statt moderner Architektur den Stil der alten Kaiserzeit.

Dago Engler vom Ledergroßhandel in der Nr. 90 hat mit vielen anderen Händlern für das Projekt votiert. Früher machte er mit Lord Knut Musik und Party, nun vertreibt er seit 25 Jahren Leder in alle Welt. „Gut, dass die ollen Bauten wegkommen und was Neues passiert“, sagt er. Sein Kollege Robert Wieser vom „Lunamaro“-Hofatelier hingegen hat Sorge, dass „so ein Riesending die Touristen abschreckt“. Mehr Grün, mehr Poller gegen Raser, und wieder erleichterte Genehmigungsverfahren für Bänke und Radständer auf dem Bürgersteig – da hätte die Sonne in seinem Herzen geschienen.

Annette Kögel

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