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Auftakt zur Berlinale: Als die Bilder bremsen lernten

Berlin steht in den Startlöchern: Heute beginnt die Berlinale, das weltgrößte internationale Publikumsfestival. Geboten werden großartige Autorenfilme und Weltkino, das dem Tempo der modernen Medienwelt Einhalt gebietet.

Die Zukunft hat längst begonnen. Die Berlinale ist digital, fast jedenfalls. Zelluloidrollen werden in den nächsten zehn Festivaltagen kaum noch durch den Hauptstadtverkehr transportiert. Die meisten Filme sausen als Datenpakete über eigens gelegte Leitungen in die Berlinale-Kinos. Der Beitrag „The Pirate Bay“, eine Dokumentation über die Gründer der Filesharing-Plattform, wird zeitgleich zur Premiere sogar kostenlos online gestellt. Das gab es auf der Berlinale noch nie.

Mobil, virtuell, superschnell – und am Ende überholt das Festival sich selbst? Die technische Revolution ändert nichts daran, dass der Autorenfilm und das Weltkino, das die Berlinale ja in erster Linie präsentiert, dem Tempo der modernen Medienwelt Einhalt gebieten. Kino, ob analog oder digital, ist beides, flüchtiger Augenschmaus und angehaltene Zeit. 24 Bilder in der Sekunde und ein langer, ruhiger oder unruhiger Fluss, in den man eintauchen kann. Die 63. Berlinale wird heute Abend mit dem Martial-Arts-Film „The Grandmaster“ eröffnet – Unterhaltung mit ziemlich altmodischer Kampftechnik.

Den Ehrenbär erhält dieses Jahr der 87-jährige Claude Lanzmann. 550 Minuten dauert sein Dokumentarfilm „Shoah“: Neuneinhalb Stunden sprechen Zeitzeugen über den Holocaust, ein Meilenstein der Festivalgeschichte seit der Weltpremiere 1985. Neuneinhalb Stunden Konfrontation und Stille – eine Wiederbegegnung, heute, 80 Jahre nach 1933. So können Filme die Geschichte entschleunigen. Auch etliche neue Berlinale-Beiträge drosseln das Tempo.

Im deutschen Wettbewerbsbeitrag „Gold“ reitet Nina Hoss als Glückssucherin des 19. Jahrhunderts 1500 Meilen weit zu den kanadischen Goldfeldern. Endlose Wälder und Weiten, Irrwege, Umwege, Abwege, eine Ewigkeit lang, der Weg ist das Ziel. Der Amerikaner James Benning, der das Festival regelmäßig mit Kino-Meditationen versorgt, bringt einen Zweistundenfilm mit, der aus nur vier Bildern besteht. Es geht um den Una-Bomber.

Die gebremste, gedehnte, gewonnene Zeit, sie kann ein Politikum sein. Der Zuschauer des 21. Jahrhunderts ist ja nicht nur ein zerstreuter Multitasker, der alle paar Tage eine neue Debatte, ein neues heißes Thema in Talks und Titelstories serviert bekommen will. Er sehnt sich zugleich nach Geschichten mit langem Atem, nach der epischen Form. Auch das ist ein Grund, warum TV-Serien wie „Homeland“ oder „Downton Abbey“ so viele Fans haben. Dranbleiben, weitermachen, weitersehen: Zur Konfrontation und Konzentration gesellt sich die Lust auf Kontinuität.

War da was? Aber ja: Die Berlinale, das wohl weltgrößte internationale Publikumsfestival, ist auch deshalb so politisch, weil sie sich bei aller Hektik und allem Trubel rund um die Stars immer als Manifestation der Nachhaltigkeit versteht. Und das beileibe nicht nur, weil Festivalchef Dieter Kosslick ihr als umweltbewusster Vegetarier seine persönliche Note verleiht. Sondern weil sie erneut Filme versammelt, die von Nachbeben der Krisen und Kriege erzählen, davon, was sie anrichten bei den Menschen in Griechenland und Spanien, in Bosnien, im Nahen und im ferneren Osten. Es ist nicht vorbei. In einem der rund 400 Festivalbeiträge rückt die Kamera einen alten Japaner in den Fokus, der ganz allein sein Tsunami-zerstörtes Haus wieder aufbaut und den Behörden trotzt, stur, zäh, geduldig.

Kinofilme sind Erinnerungsspeicher, Gedächtnistraining im nervösen visuellen Zeitalter. Die Berlinale bietet nicht nur Party bis zur Besinnungslosigkeit, sondern auch Besinnung, Kontemplation.

Das Festival 2013 richtet sein Augenmerk besonders auf Osteuropa. Erschreckend fern und unendlich nah liegt das Armenhaus des Kontinents, jene Region, in der die Demokratie zu kämpfen hat, in der Roma, Homosexuelle und Pussy Riots drangsaliert werden. Da schließt sich der Kreis: Dass es diese Filme überhaupt gibt, liegt nicht zuletzt an der digitalen Revolution, an den simplen, kostengünstigen Kameras. Sie machen es leichter, eben jene ins Scheinwerferlicht zu rücken, die im täglichen Medienzirkus schnell wieder im Schatten verschwinden.

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