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Berlin: Aus Angst vor Jobverlust keine Kur

BfA: Jeder Vierte fühlt sich krank, geht aber arbeiten BERLIN (ja/wvb).Arbeiter, Angestellte und Selbständige gehen immer seltener in Kur.

BfA: Jeder Vierte fühlt sich krank, geht aber arbeiten BERLIN (ja/wvb).Arbeiter, Angestellte und Selbständige gehen immer seltener in Kur.1997 registrierte die Landesversicherungsanstalt (LVA) mit gut 8300 Antragstellern 40 Prozent weniger Kurwillige als im Vorjahr.Seit 1995 sei die Zahl der Anträge um die Hälfte zurückgegangen, sagt LVA-Sprecherin Carmen Peuke.Bei der größten privaten Krankenversicherung, der Barmer Ersatzkasse, hat sich die Zahl der beantragten ambulanten Kuren ebenfalls nahezu halbiert.Waren es 1996 noch 4100 Anträge, so wollten im vergangenen Jahr nur noch 2200 Versicherte in Kur gehen.Das Müttergenesungswerk mußte im vergangenen Jahr mangels Nachfrage vier Einrichtungen in Bayern schließen. Mit dem Rückgang der Kuranträge liegt Berlin in einem bundesweiten Trend.Es wird nur noch halb so oft gekurt wie 1995, als Zuzahlungen, längere Fristen zwischen zwei Kuren und die Anrechnung von Kurtagen auf den Jahresurlaub gesetzlich eingeführt wurden.Zuletzt waren mit dem Eintritt in die dritte Phase der Gesundheitsreform die Voraussetzungen für eine Kur verschärft worden. Die Eigenleistungen der Kurwilligen sind für Gewerkschafter und Versicherungsexperten Gründe für den Verzicht.Für ebenso wichtig halten sie allerdings die Sorge vieler Arbeiter und Angestellten um ihren Arbeitsplatz.Früher seien vor allem die Selbständigen nach einer Krankheit so schnell wie möglich wieder an die Arbeit gegangen, sagt der ärztliche Direktor der Grunewald Klinik, Johannes Bruns.Heute gingen auch Angestellte "eher an den Arbeitsplatz zurück".Die Sorge um den Job sei "gravierend", sagt Renate Thiemann, Sprecherin der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA). Der Leiter der Abteilung Rehabilitation der BfA, Axel Reimann, beziffert die Zahl derer, die sich krank und beeinträchtigt fühlten, aber aus Angst um ihren Arbeitsplatz nicht kurten, auf 25 Prozent.Das habe eine Befragung von Versicherten ergeben, sagt Reimann.Er verweist darauf, daß mit Kuren in diesem Zusammenhang Rehabilitationsmaßnahmen gemeint sind, die bei chronisch Kranken durch Gutachter als Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit festgestellt worden sind - von Krankheiten wieNeurodermitis bis zur Psychose. Der zweite Grund für die sinkende Kur-Quote besteht darin, daß die Versicherten jetzt mehr zuzahlen müssen.BfA-Experte Reimann weiß aus seiner Umfrage, daß ein weiteres Viertel der "Reha-Bedürftigen" die Leistungen wegen zu hoher finanzieller Belastung nicht beantrage.DAG-Sozialexpertin Wilma Henneberg nennt für das Budget einer Durchschnittsfamilie folgende Zahlen: Ein Familienvater, der 4500 Mark brutto verdiene und davon eine Ehefrau und zwei Kinder ernähre, müsse für eine dreiwöchige Kur 870 Mark aufbringen. Gewerkschafter und Versicherer halten die sinkenden Kur-Zahlen aus mehreren Gründen für problematisch.Weil die Versicherer bundesweit tausende von Betten für Kuren und Rehabilitationen gekündigt haben, sollen bislang bundesweit 30 000 Arbeitsplätze verloren gegangen sein.Der Bäderverband rechnet mit weiteren 20 000 Arbeitsplätzen, die gefährdet seien.Auch die Kur- und Rehabilitationszentren in Brandenburg litten darunter, sagt DAG-Gesundheitsexpertin Wilma Henneberg.In Zeiten, als Kuren noch billiger zu haben waren, sei geplant worden, daß Brandenburg zur "Versorgungsregion" für kurerholungsbedürftige Berliner werde.Weil nun weniger gekurt werde, bleibt manches Kurklinik-Bett in Brandenburg unbenutzt. Dieter Pienkny, Sprecher des Berliner DGB, erwartet, daß die aus Arbeitgebersicht positive Entwicklung "den Unternehmern auf die Füße fallen" werde.Es sei besser, eine Krankheit auszukurieren, als irgendwann ein Vierteljahr krank zu sein, sagt Pienkny.BfA-Experte Axel Reimann sieht das ähnlich: Die Leute seien ja nicht gesünder als vor zwei Jahren; sie litten genauso an diagnostizierten Krankheiten wie früher, verzögerten aber die Behandlung.Die Folge werde sein, daß immer mehr ältere Arbeitnehmer früher berufsunfähig würden.

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