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Berlin: Aus dem Gericht: Ein Stromschlag machte aus Tim ein behindertes Kind

Die Stehlampe war eingeschaltet, der Vater sah fern, und Tim krabbelte durchs Wohnzimmer in der Reinickendorfer Altbauwohnung. Der einjährige Junge hatte den Deckenfluter mit dem Ständer aus Metall schon oft angefasst, wie seine Eltern.

Die Stehlampe war eingeschaltet, der Vater sah fern, und Tim krabbelte durchs Wohnzimmer in der Reinickendorfer Altbauwohnung. Der einjährige Junge hatte den Deckenfluter mit dem Ständer aus Metall schon oft angefasst, wie seine Eltern. Aber am 6. Juli 2001 kam es zu einer Kette unglücklicher Umstände. Mit einem Händchen griff Tim zur Lampe, die aufgrund eines Fehlers unter Strom stand, mit dem anderen umfasste er ein Heizungsrohr. Es kam zu einem Stromschlag, der aus Tim ein geistig und körperlich schwer behindertes Kind machte.

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Elektriker Jürgen N. den tragischen Unfall durch vorgeschriebene Prüfungen, einen Routinegriff, hätte vermeiden können. Seit gestern muss sich der 52-Jährige wegen fahrlässiger Körperverletzung vor dem Amtsgericht Tiergarten verantworten. Der Elektriker hatte in der Wohnung von Familie K. ein Jahr vor dem Unfall Steckdosen ausgetauscht. Er soll übersehen haben, dass eine Leitung unter Putz eine Verpolung aufwies, der Schutzleiter also unter Spannung stand.

Der Angeklagte, der derzeit arbeitslos ist, zeigte sich zu Beginn des Prozesses betroffen. Er habe 30 Jahre als Elektriker gearbeitet, immer verantwortungsvoll. "Ich habe geprüft, ich bin mir keiner Schuld bewusst, ich kann mir die Sache nicht erklären, es tut mir furchtbar Leid." Jürgen N. demonstrierte an einer Steckdose im Gerichtssaal, wie er sein Prüfgerät eingesetzt haben will.

Auch Tims Vater weiß, dass "niemand so etwas mit Absicht macht". Aber er müsse an seinen Jungen denken, sagte der 31-jährige Ingo K. als Zeuge. Er war an jenem Donnerstag gerade von der Arbeit gekommen. Plötzlich lag Tim reglos am Boden. "Ich nahm ihn auf, er atmete nicht mehr", sagte der Vater. Seine Ehefrau, eine Krankenschwester, konnte den Jungen zurückholen ins Leben. Im Notarztwagen musste Tim ein zweites Mal wiederbelebt werden. Sechs Wochen lag Tim auf der Intensivstation, ein dreiviertel Jahr war er in einer Reha-Klinik. Der Stromfluss durch seinen Körper hatte schwere Herzrhythmusstörungen und eine Schädigung des Gehirns zufolge. Tim leidet unter Spastik, hat keine Gewalt über Kopf und Hände, kann nicht allein essen. "Schwimmen findet er sehr gut, da kommt auch mal ein Lachen", sagte der Vater. Die Mutter geht nicht arbeiten, um den Sohn betreuen zu können.

Der Sachverständige sagte, die elektrischen Leitungen in der Wohnung seien zum Teil Jahrzehnte alt. Der Angeklagte habe nicht wissen können, dass es unter Putz zu einer Verpolung gekommen war. Doch bei der in der Theorie vorgeschriebenen Prüfung hätte man den Fehler bemerken müssen. Am 21. Januar will das Gericht zu einem Urteil kommen.

Kerstin Gehrke

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